Wer fotografieren will und aussergewöhnliche Motive sucht, wer die smartphone-knipserei nicht mag und wer vor allem seinen Wahrnehmungen und dem Licht folgt, muss morgens früh aufstehen. Der Himmel über Palermo verfärbte sich ab 5 Uhr allmählich vom dunklen schwarz/blau in ein lichteres Graublau, bis die Sonne hinter den östlichen Bergen ihren Weg zum Meer fand und sich in strahlendes mediterranes Hellblau verwandelt. „Azzurro, so heißt der Himmel über Palermo und azzurro ist blau.“
Palermo ist nachts eher sehr dunkel, die allgemeine Architekturbestrahlung durch künstliches Licht via unzähligen Scheinwerfern ist zumindest von unserem Balkon im 6 Stock nicht zu bemerken. Gestern Abend sah ich einen Stream über München und ich will in diesem Blog nicht beurteilen, was schöner ist; die artifizielle Sichtbarmachung der Konturen und Formen oder die schlafende, in sich ruhende Stadt, die wahrscheinlich innerhalb der Häuser eher zu Blitz und Donner neigt, wie ich es in Palermo auf jeden Fall am Straßenlärm bis kurz vor Mitternacht erlebe. Da wir unmittelbar im Viertel Ballaro wohnen, man nennt es so, weil es die Via Ballaro gibt und rund um diese Straße der Markt morgens stattfindet, indem nach und nach die einzelnen Stände aufgebaut werden. Da ich wegen des Lichtes nicht sicher war, ob es in den engen Gassen nicht noch zu dunkel sein könnte, bin ich erst gegen 7 Uhr aus dem Haus, um durch das Viertel zu laufen. An der Kirche Chiesa del Gesù war noch nichts von einem Marktgetümmel zu bemerken und je weiter ich lief, um so verunsicherter wurde ich, als ich nirgendwo Marktstände entdecken konnte. Ich fragte einen älteren Passanten, der offensichtlich in der Nähe wohnte und der teilte mir lapidar mit, dass ab „otto ora“ langsam alles losgehen würde. Gut, da hatte ich genügend Zeit, die vielen Graffitis und Wandmalereien, die derangierten Pforten und die abgerissenen Reklamefetzen an den Wänden durch mein Objektiv einzufangen. Das hat sich gelohnt, denn später sieht man von dieser subkulturellen Stadtästhetik nämlich nichts mehr, alles wird für Tomaten, Fische, Gemüse oder Fleisch zugestellt. Von den Gemischtwarenläden der Pakistaner und Inder ganz zu schweigen.
In einem kleinen Café habe ich eine cioccolatino caldo getrunken und ein Creme-Croissant zu mir genommen. Dieser heisse Kakao ist dickflüssig und ähnelt der berühmten chocolate caliente in Madrid, die wir des öfteren in der Nähe der Plaza Mayor geschlürft haben. Gleich darauf habe ich die Chiesa Gesù betreten, weil auch diese Kirche ab 8 Uhr verschlossen wird. Ein Barockes Wunderwerk, wenn man die überladenen Ornamente und üppigen Ausgestaltungen dieser Kunstepoche wertschätzt. Zum Fotografieren bieten sich in jedem Fall ungeahnte Möglichkeiten, Details und Gesamtaufnahmen abzulichten, sofern das Licht in diesen prinzipiell dunkleren Kirchen es zulässt, denn einen Blitz vermeide ich, solange es möglich ist. Als ich wieder ins Freie trat, standen die ersten Händler herum und begannen ihre Verkaufsflächen aufzubauen. Keiner scherte sich um einen und ich konnte in Ruhe die Belichtungszeiten festlegen und meine Fotos schießen. In Erinnerung an Bregenz, wo ich auch auf dem Wochenmarkt herumgelaufen bin und bei einem Foto, bei dem ich aufgestapelte Speckenden ins Bild setzte, gefragt wurde, ob ich eine Erlaubnis habe und ob das nicht überhaupt verboten sei. Meine Reaktion war eindeutig und ich habe ungeachtet der Tuscheleien und Anwürfe der Marktfrau wie der Umherstehenden die Vorarlberger Spezialitätenpallette aufgenommen und der Marktfrau zu verstehen gegeben, dass ich als Fotograf im Öffentlichen Raum solange fotografieren könne, solange ich keine Vorarlberger Gestalten mit ins Bild nehme.
Offensichtlich gibt es im Ballaro beim Aufbauen des Marktes eine Reihenfolgepriorität. Zunächst drapieren die Obst- und Gemüsehändler ihre Waren, gleich darauf die Kräuter- und Spezereienspezialisten. Die Fischhändler sind als nächste dran und am Schluss öffnen die Metzger und Schlachter ihre Kühltheken. Ein Fischhändler legte einen fast zwei Meter langen Thunfisch auf die Auslage und begann seine eher grobmotorigen chirurgischen Eingriffe an dem elegant aussehenden Körper des Riesenfisches. Das schreckt natürlich viele ab, die wie ich, den Thunfischfang für verboten halten, aber in Palermo scheinen viele das Fleisch des Thun zu mögen und ich mische mich nicht in die gastrokulturellen Vorlieben der Sizilianer ein. Politisch korrekt? Man kann alles übertreiben und wir sind Gäste in diesem Land und ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, das Gastrecht wie die Gastfreundlichkeit zu achten und keinesfalls den Stab über diese Menschen zu brechen, weil es zum einem nichts nützen würde und zum anderen meine Arbeit als Fotograf abrupt beendet werden könnte. So schlenderte ich langsam wieder zurück. Mit Kamillentee, Cola Zero und einer Menge Fotos, die in den zwei Stunden entstanden waren.