Vielen ist der Nimbus der Camargue zwar gelaüfig, bleibt aber bei den meisten trotzdem immer noch eine terra incognita, auch wenn man sich schon einmal für einige Zeit in Saintes-Maries-de-la-Mer aufgehalten hat oder zumindest einen Tag dort verweilte. Vielen wird natürlich bekannt sein, dass die „Gitanes“, wie die Leute in Südfrankreich die Sinti und Roma nennen, sich jedes Jahr auf ihrer Wallfahrt zur schwarzen Madonna ans Meer aufmachen, auch wenn sie von weither aus allen Ländern Europas kommen müssen. Die Medien und die einschlägige Werbung haben in den letzten Jahrzehnten alles getan, um dieses Traditionsfest der europäischen Nomaden als pittoreskes oder illustres Spektakel zu verkaufen und immer mehr Zuschauer anzulocken. Unsere durchorganisierte Welt scheint außergewöhnliche, in ihrer Art authentische Traditionen wie die Stierhatz in Pamplona, die alemannische Fassnacht in Rottweil oder den Sonnenwendfeier in Schweden zu brauchen, um der allgemeinen Normierung und den Konsumzwängen etwas entgegenzusetzen. Viele Anlässe regionaler Feste, die vor langer Zeit als landestypisches Brauchtum entstanden sind, werden aus merkantilen Gründen zu touristischen Events umgedeutet und wenn eine Stadt oder eine Region bislang nichts vorzuweisen hatte, wird ein Mittelalterfestival, eine Wiederbelebung der Targa Florio* oder ein Fischerstechen* a la Sête aus dem Hut der vielen Möglichkeiten gezaubert. Der Sommer ist lang, die Ferien ermöglichen den Menschen redundant Freizeit und wenn das Wetter mit viel Sonne mitspielt, verspüren viele den Drang, sich hauptsächlich im Freien aufzuhalten, etwas zu erleben und irgendwie unterhalten zu werden.
Vor 45 Jahren bin ich zweimal in die kleine Stadt am Meer gepilgert und in jenen Tagen hatten sich schon viele Schaulustige versammelt, um die rituelle Zusammenkunft der „Zigeuner“ mit der Prozession zum Meer sehen zu können. Die Verehrung gebührt der „schwarzen Sara“, einer Dienerin der biblischen Schwestern Martha und Maria Magdalena. Reliquien der „Schwarzen Sara“ wurden am 24. Mai 1923 wiedergefunden und seitdem findet dieses Fest statt. Erstaunlicherweise versammelten sich Roma und Sinti auch während des Zweiten Weltkrieges in Saintes-Maries-de-la-mer, obwohl sie überall in Europa in Konzentrationslagern eingesperrt worden waren. Im Film „Tiefland“ von Leni Riefenstahl bediente sich die Regisseurin zwangsrekrutierter Roma und Sinti aus Konzentrationslagern, um den Film, der in den spanischen Pyrenäen spielte und „rassige“, südeuropäisch aussehende Menschen brauchte, überhaupt realisieren zu können. Allein das zeigt, welch böser und menschenverachtender Geist damals durch Europa geisterte.
Die Forschung über Roma und Sinti ist laut einschlägiger Artikel im Internet allerdings sehr lückenhaft und es muss offensichtlich noch vieles aufgearbeitet werden. Auch wenn ich weiß, dass man nicht nur politisch korrekt (das wäre zu billig) den Namen „Zigeuner“, der abwertend konnotiert ist und in der deutschen Geschichte eine unrühmliche und ausgrenzende Rolle gespielt hat, nicht benutzen sollte, kommt man in derartigen Texten manchmal nicht umhin, das Wort hin und wieder zu gebrauchen. Man muss aus Respekt vor diesen Menschen gründlich in deren Geschichte eintauchen. In diesem Zusammenhang verweise ich auf die etymologischen und historischen Begriffserklärungen. Im Deutschen soll der Ursprung des Wortes aus dem Mittelhochdeutschen „Cigäwnär“ stammen. 1422 erwähnte Andreas von Regensburg in seinem Tagebuch: „Ein gewisser Stamm der Cingari gewöhnlich Cigäwnär genannt (lateinisch quaedam Cingarorum vulgariter Cigäwnär vocitata)*.
Die „Schweizer Radgenossenschaft der Landstraße“ die Jenische genannt werden, bezeichneten sich selbst als „Zigeuner“. Sie fassten die „gemischten Gemeinschaften von Sinti, Romani und Jenischen“, zusammen und gingen in den Wortschatz als „fahrendes Volk“ ein. Schausteller, Jahrmarkthändler, Chilbi = Kirmes- und Zirkusleute. Davon sind sie jedoch seit etwa der Mitte der 1990er Jahre abgerückt und verzichteten in der Folge auf das Zigeuner-Etikett. Wissenschaftler vertreten die These, dass Roma und Sinti ursprünglich aus Indien, Persien oder den heutigen südostrussischen Republiken wie Georgien, Armenien und Tschetchenien kamen und sich in Südosteuropa niederließen. Wer sich genauer informieren will, kann bei wikipedia nachschauen, dort existiert ein umfangreicher Eintrag über die genannten Volksgruppen.
In den 50er und 60er Jahren zogen viele Hippies und sogenannte „Bohemians“ aus den größeren Städten nach Saintes-Maries-de-la-mer, weil viele durch das Beispiel der umherziehenden Nomaden Freiheit, Zeitlosigkeit und Ungebundenheit in ihrer eigenen Art demonstrieren wollten.
In der Camargue wie auch im gesamten Bereich Languedoc und Provence leben immer noch viele Roma und Sinti, die häufig mit großen Wohnmobilen unterwegs sind und manchmal lange Zeit als Gruppe an einem Ort verweilen. Die Vorurteile gegen die beiden Volksgruppen sind weiterhin virulent und unter Sarkozy wurden sie regelrecht an den Pranger gestellt.
Wir sind mit dem Wagen nach Le Grau-du-Roi gefahren, weil ich unbedingt ans und ins Meer wollte und mir einen Küstenstrich aussuchte, der meines Erachtens noch nicht zu überlaufen war. Auch wenn die Häuser in Le Grau entlang der Strandpromenade wenig einladend erschienen, zeigte sich ein weiter Sandstrand und weil Ebbe war, konnte ich bis zu 100 Meter herausschwimmen, ohne die Bodenhaftung zu verlieren. Mit 18 Grad fand ich das Wasser angenehm erfrischend, denn die Sonnenstrahlen, die über 30 Grad erreichten, verlangten nach einer Abkühlung. Allerdings sollte man den Wind nicht unterschätzen, der als angenehme Brise über den Strand wehte und die Hitze so verdrängte, dass man die stechende Sonne verdrängte und nicht mehr als so heiß spürte. Nur mit gutem Sonnenschutzöl kann man an einem derartigen Tag einen Sonnenbrand vermeiden.
Von der Küste aus sieht man die Retortenstadt des all umfassenden Urlaubsparadieses La Grand Motte, das seit 1963 in der brackigen und sumpfigen Schwemmlandschaft in wenigen Jahren hochgezogen wurde. Zunächst musste aber eine flächendeckende Mückenplage bekämpft werden, denn Strandferien mit Stechmücken würden kaum Urlauber anziehen. Unter Premierminister Georges Pompidou sollte ab 1963 die Herkulesaufgabe, das Languedoc touristisch zu erschließen, bewältigt werden. Man beauftragte den Architekten Jean Balladur, unweit von Montpellier eine neue große und supermoderne Ferienstadt zu planen und zu bauen. Balladur wurde von der babylonischen Pyramide Breughels inspiriert und setzte mehrere pyramidenförmige Wohnblocks, die den atztekischen Opferstätten ähnelten 500 Meter entfernt von der Küstenlinie. Anfangs ging ein Aufschrei durch ganz Frankreich, dass der Staat es zulasse, dermaßen hässliche Betonklötze den arbeitenden Menschen als Feriendomizil anzubieten. 1974, als die offizielle Eröffnung war, gab es in Frankreich noch eine stolze Arbeiterklasse (16% kommunistische Wähler) (nachzulesen: Didier Eribon – Rückkehr nach Reims).
Aber inzwischen gilt La Grand Motte unter Architekturkennern als Meilenstein für eine ganzheitliche Lösung im Tourismus. Die Aufgabe 100.000 Gäste zu beherbergen und dazu zukunftsweisend zu sein, formte in Balladur die Meinung, Autos soweit wie möglich aus der Stadt zu verbannen. Er engagierte junge Künstler und Landschaftsarchitekten, um die neue futuristisch anmutende Siedlung menschengerecht zu gestalten. Jeder weiß, dass so ein Projekt Jahre dauert, bis es zu dem wird, was sich ein Baumeister vorgestellt hat. Heute steht La Grand Motte im Gegensatz zu den Bettenburgen in Benidorm, Torremolinos oder Oostende einzigartig da und wer sich mit der Zukunft des Tourismus im Zeichen des Klimawandels, der Demographie und der Nachhaltigkeit beschäftigt, wird Balladurs Visionen besser verstehen können. Grandhotels und Nobelrestaurants sucht man hier vergeblich. Im übrigen war Balladur ein glühender Anhänger de Gaulles und entlehnte dessen Nase (nicht gesicherte Quelle ohne Gültigkeit) für die Trennwände der Balkone an einem der Gebäude des Quai d’Honneur. Ein Schüler des Meisters entwarf später den Ortsteil Motte du Couchant, in denen runde, geschwungene und vegetative Formen das Stadtbild beherrschen.
Nachdem wir uns eine Weile am Strand aufgehalten hatten, inzwischen kamen immer mehr Leute, gingen wir zum Parkplatz zurück und fuhren ins naheliegende Aigues Mortes. Übersetzt heisst Aigues Mortes „Tote Wasser“. Es ist einer der kulturhistorisch interessantesten alten Städte entlang der Languedoc-Küste. Le Grau und Aigues Mortes sind durch einen Kanal verbunden und wenn man die Brücke überquert, sieht man schon die mächtige und trutzige Mauerbefestigung, die den gesamten Ort umschließt. Diese burgähnliche Stadt, die den Entwürfen des Verteidigungsbaumeisters Vauban (Neuf-Brisach,Belfort) alle Ehre gemacht hätte, ließ Ludwig der IX, auch der „Heilige“ genannt, ab 1248 aufbauen, nachdem er das Land von den Arogenesern erworben hatte. Es war der erste Mittelmeerhafen in seinem Herrschaftsbereich und von hier aus zog der „heilige“ König ins Morgenland, um sich als Kreuzritter seine Meriten zu verdienen und sich als „veritabler Kämpfer für den einzigen Glauben“ zu beweisen. Die Etymologie sagt über Aigues Mortes und deren Bewohner laut wikipedia folgendes: „ Es ist möglicherweise eine korrumpierte Form der Sekte der Athinganen (griechisch – Ἀθίγγανοι, Athinganoi) „die Unberührbaren“), die im 9. Jahrhundert im früheren Phrygien lebten. Im Jahre 803 wurden sie dort in Amorion (heutige Türkei bei Ankara) erstmals als „Zauberer, Wahrsager und arge Ketzer“ beschrieben. Aber auch der Begriff „Zigeuner“ ist in alten Schriften immer wieder zu lesen.
Philipp der Kühne vollendete 1268 den Bau der Hafenstadt und befahl den Bau des Festungsvierecks. Die Stadtmauer mit den zahlreichen Toren und Türmen ist ingesamt 1634 Meter lang und wurde erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts endgültig fertig gestellt. Handel, Weinbau und Salzgewinnung prägten die ökonomischen Grundlagen der Stadt.
Italienische Wanderarbeiter entfachten 1893 einen Aufstand gegen die ortsansässigen Salinenbesitzer, der von den Stadtregierung und den reichen Salinenbesitzern blutig niedergeschlagen wurde. Die Salzgewinnung war und ist eines der Grundlagen für die wirtschaftliche Bedeutung der Stadt wie des Umlandes.
Ein Besuch der Stadt lohnt sich, denn eine ähnliche mittelalterliche Festungsanlage kenne ich persönlich nur aus Carcassonne und Vieux Boulogne sur Mer. Wie alle kulturgeschichtlichen Orte ist auch Aigues Mortes der Anziehungspunkt für Touristen aus aller Welt, es ist aber vorstellbar, dass man ausserhalb der Saison in diesem Gemäuer ein beschauliches Leben führen kann.
Ich war 1969 das erste Mal in Aigues Mortes, nachdem mir ein befreundeter Busunternehmer aus Sête anbot, seine Touren für die Begleitung eventuell mitfahrender deutscher Touristen zu coachen. Wir fuhren mit einem Bus voller Urlauber durch die Camargue und in der Nähe von Aigues Mortes befand sich eine riesige Stierzuchtfarm, wo in einer Arena junge Matadores ausgebildet wurden. Die Fahrt mit Jean Louis wird mir unvergesslich bleiben, denn zum einem gab es keine deutschen Bustouristen und zum anderen konnte ich endlich die viel beschriebene, ursprüngliche Camargue mit all den Wildpferden, Stieren und Flamingos aus nächster Nähe bewundern.
Als wir im Bereich der Stierzucht angekommen waren, begaben wir beide uns erst einmal in die Küche des Jean Louis bekannten Restaurants und wurden dort zum Essen eingeladen. Es gab reichlich Vin des Sables und Daube Provencale und am Schluss den von allen in höchsten Tönen gelobten Camargueschnaps „Ratamiaou“ (nach einem Kinderlied), wie auch immer das geschrieben wird. Da wurde man schon beim ersten Schluck zu einem mit den Füßen scharrender Stier, der seine Kampfbereitschaft durch die Nüstern blies. Nach dem reichlich langen Mahl lotste mich Jean-Louis zur Arena und sagte mir, dass ich durch eine von ihm beschriebene Tür gehen sollte, er würde sofort nachkommen. Ich öffnete das schwere Portal, ging ein paar Schritte vorwärts und bemerkte, dass ich mich in der Arena befand. Am anderen Ende sah mich ein großes schwarzes Ungeheuer mit blutunterlaufenen Augen an und stürmte ohne Vorwarnung auf mich zu. So schnell bin ich noch nie hinter die für die Matadores angelegten Absperrungen in der Arena gesprungen, um von dem schwarzen Biest nicht zermalmt zu werden. Jean Louis tauchte auf und sagte nur „ Oh Caramel“, was soviel wie Feigling bedeutet. Gerne war ich ein Feigling, obwohl es mich wurmte, aber lieber mit heilen Knochen nach Sête fahren als mit vielen weißen Verbänden umwickelt. Dabei ist anzumerken, dass es sich bei dem genannten Stier um ein Kalb handelte. Die Stiere werden während eines Wettkampfs (sehr einseitig) nicht abgestochen, sondern wendige junge Männer in weißen Kleidern versuchen mit irrwitzigen, akrobatischen Sprüngen ein rotes Band von einem der Hörner abzuziehen. Die sechs Wochen in Sête werde ich immer in Erinnerung behalten, auch weil mir meine schöne, neue doppeläugige Spiegelreflexkamera geklaut wurde und nachts im Bahnhofsbuffet es hin und wieder wüste Handgemenge zwischen zwei rivalisierenden Gruppen von Kellnern und Köchen aus dem Gastgewerbe der Innenstadt gab, die sich frühmorgens immer dort trafen. Mein Hang zum Servicepersonal der Restaurants war damals ausgesprochen tief in mir verwurzelt
Wer in die Camargue fährt, sollte immer wieder mal auf kleine Straßen abbiegen, solange es nicht verboten ist, um die Schönheit dieser Sumpflandschaft schätzen zu lernen. Vin de Sables, Saucisson-de-Tareau, Cerises und viele Tomatensorten (schwarze, grüne, gelbe) sorgen dafür, dass später die Erinnerung lebendig bleibt. Interessantes gibt es über den Vin de Sables zu berichten: Die Phylloxera oder die Reblaus kann in kurzer Zeit ganze Weinberge zerstören. Wissenschaftler fanden heraus, dass gewisse Gegenden von dem Übel verschont wurden und sie erkannten, dass es sich um die Weinberge handelte, die auf Sandboden angelegt waren und regelmäßig überflutet wurden. Die Winzer bekämpfen seit dem 19. Jahrhundert die Reblaus mit einheimischen Edelreisern (Vitis vinifera), die auf die jungen Rebstöcke gepropft werden. So wird der Fortpflanzungszyklus der Reblaus unterbrochen. Deshalb stehen fast alle Weinanbauflächen der Welt heute auf einer geeigneten, dem Standort angepassten Unterlagsrebe. Sandböden genießen den Vorteil, dass die Reblaus keine Chance hat, sich auszubreiten. Deshalb blieben während der in ganz Frankreich grassierenden Reblaus-Epidemie im 19. Jahrhundert nur Weine auf Sandböden verschont.
Dieser leichte Roséwein passt als Erfrischung gut gekühlt in diese heiße Landschaft am Rhone-Delta und kann zu allen Mahlzeiten oder als Aperetif getrunken werden.
Südfrankreich zwischen der italienischen und spanischen Grenze wird immer mein Land des Lichtes bleiben.
*quaedam Cingarorum vulgariter Cigäwnär vocitata – gewisse Cingarer umgangssprachlich Cigäwnär genannt
*Targa Florio – ehemaliges Autorennen durch ganz Italien, heute als Oldtimerrally wieder neu belebt