Reisen bildet, Reisen eröffnet neue Horizonte, Reisen fördert die friedliche Völkerverständigung, Reisen speist die Seele und Reisen erfreut die physiologischen Anforderungen und elementaren Bedürfnisse des Gastrointestinaltraktes in außergewöhnlicher Art, wenn man mit allen Sinnen neuen Genüssen wohlwollend gegenübersteht und sich traut, eine französisch verfasste Speisekarte zu übersetzen oder sich von einem Kellner erklären zu lassen. Das alles funktioniert ohne Algorithmen und künstlicher Intelligenz und diese zeitgenössischen Foltermethoden wären auch völlig unangebracht, weil sie dem Wesen des Menschen fundamental widersprechen. Das gilt auch für den folgenden Teil meines Berichtes, den ich auch als Anreiz für die kommende Arles, Avignon, Les-Baux-Reise von philosophiekunst allen ans Herz legen möchte.
Eine sechsköpfige Gruppe älterer, durchaus kulturaffiner, honoriger und weltoffener Herren unternimmt eine Reise in den Süden in das viel besungene und gelobte Land französischer Lebensart, welches schon von den Römern mit außerordentlicher Vergnügungssucht und dem Versprechen, einen wonnigen Lebensabend zu verbringen, als eine Art „Mallorca“ der Antike okkupiert und verteidigt wurde. Sechs Herren zogen also los, allein von der großen Leidenschaft beseelt, sich mit drei eisernen Kugel, am und mit dem Nationalspiel (auch -sport) unserer französischen Nachbarn für einige Tage zu erfreuen. Boule oder in ambitionierter Spielweise auch „Petanque“ genannt (aus dem Provençal übersetzt: beide Beine auf dem Boden) wird in der Provence genannten Gegend zwischen Montelimar und Gap im Norden, Orange und Avignon im Westen, Aix en Provence und Draguignan im Süden und den Alpen im Osten als Inbegriff des lockeren und Freude spendenden Zeitvertreibs auf sogenannten Boulodromen oder auch auf einfach, mit Platanen bestandenen Dorfplätzen zu jeder Jahreszeit spielend gefrönt. Es sei denn, Kälteeinbrüche oder Schnee verhindern es, sich diesem erbaulichen etat d`âme (Seelenzustand) aus dem gewöhnlichen Leben oder den Zwängen des Alltags zu widmen. Petanque entstand aus dem Boule Provençale, bei dem eine Kugel über eine größere Distanz aus dem Lauf an ein Zielkügelchen angenähert werden musste, indem in La Ciotat bei Marseille ein von Arthrose geplagter Spieler, der auf einem Stuhl sitzen musste, auch mitspielen wollte. Man verkürzte die Distanz zwischen sechs und zehn Meter und versuchte die Kugeln aus Eisen (oder rundum genagelten Holzbollen) so nah wie möglich an das sogenannte „cochonet“ (Schweinchen) oder bouchon (Korkverschluss) zu lancieren. Lag die Kugel erfreulicherweise in der Nähe dieses Schweinchens, wurde sie häufig vom Gegner mittels eines Schusses direkt ins Abseits befördert, manchmal sogar in einer Weise, dass die Schießerkugel genau dort liegenblieb, wo sich die anvisierte Kugel noch vor wenigen Sekunden befunden hatte. Das nennt man carreau nur place (ein wahres Kunststück). Soviel zum Spiel mit den boules oder dem Spiel mit den eisernen Kugeln, welches leidenschaftliche Spieler zu jeder Tag- und Nachtzeit ausüben können.
Aber der Grund der Reise waren nicht nur die Freuden am Spiel selbst im Land des Boulespielens, sondern eine Verbeugung vor den Ursprüngen des Petanque und eine Annäherung an die Kultur sowie die kulturellen Spuren der vergangenen zweieinhalb Jahrtausende, sondern auch eine deutsch-französische Affirmation unserer mitteleuropäischen Gemeinsamkeiten (aber auch Unterschiede) und der Genüsse und visuellen Erstaunlichkeiten dieses provençalischen Landschaft, die ein enthusiastischer Schriftsteller einst „Land des Lichts“ genannt hatte. Tatsächlich bestimmt das Licht zu jeder Jahreszeit die Atmosphäre dieser Landschaft und wirkt sich unterschiedlich positiv auf die individuelle Wahrnehmung des neugierigen Besuches aus, indem er zum Beispiel staunend im Tal des Klosters Senanque in den Sommermonaten die atemberaubende Fülle der Lavendelblüte und der kargen Steinschönheit dieser sehenswerten Abtei in sich hineinsaugt oder im Herbst durch die rot-gelb-orange-dunkelgrünen Rebenterrains an der Weinstraße Rasteau, Gigondas, Vacqueyras und Sablet am Fuß der Felsenzähne „dentelles de montmirail“ durchstreift.
Die sechs Herren von der Leidenschaft des Boulespiels nach Süden angezogen, haben sich natürlich nicht nur im boulistischen Fieber auf den diversen Boulodromes herumgetrieben, sondern haben in ihrer Eigenschaft als bürgerlich gebildete Zeitgenossen einige der großartigen Spuren vergangener Baukunst aufgesucht. In Avignon, gut untergebracht im Hotel Mangnan, unmittelbar an der westlichen Stadtmauer gelegen, stand der Besuch des Papstpalastes (1335 bis 1430 aktiv – die Gegenpäpste), eine monumentale Klerikalburg auf einen mächtigen Felsen gepfropft im Mittelpunkt des Stadtrundgangs, aber auch die berühmte „Pont d´Avignon“ – Pont Saint-Bénézet, deren steinere Version im Jahr 1355 errichtet wurde. Leider war die Gruppe nur zwei Tage in der Rhonestadt, aber für die Zukunft möchte der Erzähler den kommenden Besuchern noch einige kulturelle Höhepunkte ans Herz legen: die Kathedrale St-Pierre d’Avignon, das Musée Calvet im Stadthaus von Villeneuve-Martignan, die Oper, die Universität, die Rue de la Republique, das Museum „Angladon“ und das zeitgenössische Museum mit der Sammlung Lambert.
Die Herren waren aber in der pittoresken Stadt „Vaison-la-Romaine“ mit einer Hotelbuchung verabredet und fuhren dann durchs Rhonetal an die in der Antike gegründete Siedlung am Flüsschen Ouvèze, welche sich in der kollektiven Erinnerung der Franzosen an die dramatische Überschwemmung im Jahre 1992 eingegraben hat, als bei einer reißenden Sturzflut 35 Menschen ums Leben kamen. Vaison-la-Romaine, wurde wie der Name der Stadt schon impliziert auch von römischen Okkupanten gegründet, gab sich aber den Zusatz „la Romaine“ erst 1924, um auch im ganzen Land kundzutun, dass an diesem Ort nicht nur ein gut erhaltenes und ansehnliches Amphitheater (für ca. 5-6tausend Zuschauer) erbaut wurde, sondern in vielen Ausgrabungen (für die Freunde der römischen Antike sei erwähnt, dass es sich um ansehnliche 13 Hektar handelt) die Spuren der römischen Besatzungszeit zu bewundern sind. Schon im 2. Jahrhundert v. Chr. zogen die Römer auf ihrem Geländebeutezug durchs Tal der Ouvèze und begannen eine kleine Legionsstadt auszubauen. Vasio Vocontiorum, wie die Römer den Ort fortan nannten, beherbergte schon in ihren Anfängen ca. 10.000 Einwohner und galt als wichtige Bastion der nördlichen Grenzabsicherungen. Prominenter römischer Kulturrepräsentant soll angeblich Cornelius Tacitus gewesen sein, der das aufschlussreiche Buch „Germania (De origine et situ Germanium liber)“ verfasst hat, ein nicht unbedeutender Hinweis, den man nicht in den diversen Asterixheften finden kann. Im dritten Jahrhundert setzte man einen Bischof ein und im 11. Jahrhundert ließ Raymond VI von Toulouse auf der westlichen Anhöhe des Flussufers auf den Grundmauern der ehemaligen keltischen Burg, die heute noch gut erhaltene festungsartige Burg errichten, die die Silhoutte des Tales der Ouvèze dominiert. Liebhaber der Tour de France werden nicht nur den Namen der Stadt kennen, sondern vor allem den Mont Ventoux, der mit 1912 Metern das gesamte Rhonetal überragt. Wer den Mont Ventoux kennt, wird auch die Kleinstädte Malaucene und Le Barroux im Gedächtnis haben, denn dort beginnen die Muskeln zehrenden Rennradaufstiege zum Gipfel des Berges, den der englische Profi Tom Simpson 1967 kurz vor dem Ziel vollgedröhnt mit Cognac, Amphetaminen und anderen verschreibungspflichtigen Aufbaumitteln mit seinem Leben bezahlen musste. Francesco Petrarca, der Verfasser der „Canzoniere“, wanderte 1336 auf den Gipfel des baumlosen Gipfels und ward auf seinem Weg mehrfach von der Muse geküsst. Alle Besitzer von Rennrädern hegen auch heute noch den Traum, mit 24-28 Gängen diesen Bergkegel zu erstrampeln und einige fallen am Ziel angelangt, dehydriert, ausgezehrt, aber mit einem Überschuss an Endorphinen regelrecht wie von eine gnädigen Blitz getroffen von ihrem Drahtesel, der bisweilen schlappe 10.000 Euro gekostet haben mag. Der von mir partiell verehrte Philosoph Peter Sloterdijk hat diese Tortur übrigens schon einige Male zwecks Gedankenentleerung oder -vermehrung auf sich genommen.
Die sechs Herren fuhren allerdings in einem geräumigen Neunsitzer einer deutschen Automarke durchs Land und erfreuten sich nicht nur am kleinen, historisch atmenden Ort Venasque mit der schlichten und schmucklosen Anmut des Baptisterium aus dem 6. Jahrhundert, sondern auch an einer Besichtigung des Klosters Senanque und der langen Geschichte des dort ansässigen Zisterzienserordens. Bei der Weiterfahrt umrundeten sie die von teuren Hotelgemäuern besetzte Hügelsiedlung Gordes, deren Besuch so manches normale Girokonto schon beim Anblick der Speisekarten in einen schrumpfenden Zustand versetzen kann. Wer hier entspannt, hat oder weiß nicht mehr, wieviel er besitzt, wer hier das Nichtstun mit komfortablen Genüssen veredelt und wer hier sein Vermögen in Saus und Braus verjubelt, wird den Begriff „Arbeit“ allerhöchstens nur noch rudimentär buchstabieren können. Schon bei einem Aperitif 2012 Beaume de Venise, einem Salat Niçoise a la Bocuse nebst einem Charolais-Steak und einer Gouffre avec Glacé sowie einer Flasche 1976er Chateauneuf du Pape, vermehrt das Vermögen der vollendeten Gastlichkeit häufig um mehrere hundert Euro, damit man die Würdigung des Genusses in seinem unerfüllten Ego ein wenig aufpäppeln kann.
Orange (römisch Aurenja), auch so eine alte Römerstadt am Flüsschen Eygues nahe des Rhonetals war das nächste Ziel der sechs Herren, als sie ihre geschichtliche Neugier befriedigen wollten.
Der Triumphbogen mit einer Länge von 19 Metern, einer Höhe von 18 Metern und acht Metern Breite war das erste Ziel, weil dieses gut erhaltene Schmuckstück römisch monumentaler Siegerkunst einer der Pilgerstätten aller Bildungssuchenden ist. Gleich darauf folgt das riesige Amphitheater, welches in der Sommerzeit immer noch mit weltbekannten musikalischen Meisterleistungen bespielt wird. Dieses Halbrund hunderttausender Steinbrocken, wohl geformt durch reife Steinmetzkunst, nahm zu Zeiten der römischen Kaiser mehr als 10.000 Personen auf, heute können siebentausend Musikliebhaber Konzerte oder Opern wie Tosca, Aida, Rigoletto, Nabuco oder Carmen unter freiem Himmel genießen. Im Mittelpunkt der Stirnseite steht die 3,55 Meter hohe Statue des Kaisers, dessen Kopf je nach politischer Großwetterlage austauschbar ist. Die Szenenwand, also das Gemäuer als Abschluss der halbrunden Besuchertreppenarkaden misst 103 m in der Länge und 38 m in der Höhe. Zu römischen Zeiten zählte die Einwohnergemeinde ca. 50.000 Personen, heute bewohnen lediglich noch 30.000 Bürger die Stadt. Noch vor einigen Jahren war Orange auch ein Stützpunkt der „Legion Etranger“, die „kepi blanc“ oder Fremdenlegion. Malheuresement, leider muss man auch darüber berichten, dass ein großer Teil und vor allem Städte des gesamten Südens sehr stark vom „front national“, inzwischen „rassemblement national“, der ehemaligen Le-Pen-Partei beherrscht werden. So werden u.a. Toulon, Carpentras, Nimes und Perpignan von Bürgermeistern-innen dieser Partei des teilweise kämpferischen Nationalismus und Rassismus regiert. Der Soziologe und Schriftsteller Didier Eribon hat in seinem beeindruckenden Essay „Rückkehr nach Rheims“ sehr genau analysiert, wie der Aufstieg dieser rechten Partei erfolgte. Ein wesentlicher Grund war der Untergang der klassischen Großkonzerne in der Schwermetallindustrie, im Bergbau und der weiterverarbeitenden Maschinen- und Gerätefirmen in der Mitte des 20. Jahrhunderts mit der gleichzeitigen Dezimierung der klassischen Arbeiterklasse, die in den letzten Jahren angesichts ihrer prekären und hoffnungslosen Verhältnisse scharenweise zu den Rattenfängern der Rechten übergelaufen sind. Wer noch Beispiele aus der Geschichte braucht, muss sich nur das Ende der Weimarer Republik vor Augen führen, als arbeitslose Kommunisten nach 1932 zu Hau sich der SA andienten und in die braune Schwadron eintraten.
Nach vier Tagen bedeckter Himmelsfläche und immer wieder herunterfallenden Wassertropfen kamen zwei wundervolle Tage mit 25 Grad Wärme, die den sechs Herren große Freude und grandiose Boulespiele bescherten. Weil die französischen Spieler auf dieser großräumigen Bouleanlage entweder zu inkludiert oder zu abweisend waren, kamen keine dualnationalen Partien zustande, so dass sich die sechs Kombattanten in vielen Tripletts mit oft sehr knappen Ergebnissen selbst große Freuden bereiteten. Zwei ältere (????) Franzosen, die uns beim Spiel zusahen, wollten zunächst direkt mitspielen, entschlossen sich aber dann nach einem kleinem Diskurs, einen Termin für den nächsten Tag zu vereinbaren, ohne mit trockener Überheblichkeit anzumerken, dass wir ja wüssten, im „Land des Petanque“ zu sein. Aber offensichtlich schien unser recht ansehnliches Spiel auch tiefe Urängste aufgebrochen zu haben, so dass sie am anderen Tag zu dem verabredeten Kräftemessen nicht mehr erschienen. Dabei wollten wir nur spielen und zwar Melée, was nichts anderes bedeutet, dass vorher nahezu blind und ohne Täuschung gelost wird und die Möglichkeit bestand, dass Jean mit Walter und Wolf mit Jacques würde spielen können. Vielleicht sollten wir demnächst in den Landesteilen spielen, die sich nicht für selbst erschaffene Champions halten. Frankreich ist groß.
Übrigens fand die Rückreise wieder per trein statt – TGV – ICE, aber diesmal zum gleichen Preis in der ersten Klasse.
Verlassen wir die sechs Herren und widmen wir uns allgemeinen Fragen zu der Reise im nächsten Jahr. Die sechs fuhren mit ICE und TGV, Umsteigen in Mannheim in ungefähr 7,5 Stunden von Köln nach Avignon und das Billet kostete ca. 125 Euro hin und zurück. Sie buchten früh und kamen so in den Genuss der günstigen Preise. Fliegen ist nicht so unkompliziert. Mit Lufthansa von Köln nach München und Umsteigen nach Marseille kann bis zu 10 Stunden mit Einchecken und Auschecken und Anfahrt zum Flughafen wie Fahrt zum Hotel dauern. Eurowings fliegt von Köln nach Marseille, die Flugzeiten sollen sehr ungünstig liegen. In Avignon und Lyon befinden sich Flughafen, auch in Montpellier gibt es einen. Welche Fluglinien genutzt werden können, muss nach Kalender und Uhrzeit ausgetüftelt werden.
Zu den Städten: Arles ist zunächst durch das große ovale Amphitheater (Fassungsvermögen 25.000 Zuschauer), das van Gogh-Museum, die internationale Fotoausstellung Rencontres d´Arles im Sommer, das neue Kulturzentrum LUMA für zeitgenössische Kunst, gesponsert durch die Erbin Maja Hoffmann (Hoffmann-LaRoche-Basel) mit seinem neuen visuellen Höhepunkt, dem 56 Meter hohen skulpturalen Turm von Frank Gehry und der um die Stadt gelegene Camargue mit den hübsch anzuschauenden Flamingokolonien. Sehenswert ist auch das in der Nähe liegende „Aigues Mortes“ sowie das einst „architektonisch verschrieene Urlaubsghetto La Grand Motte“
Le-Baux-de-Provence: Am westlichen Zipfel des Luberongebirges liegt der römische Steinbruch Les-Baux-de-Provence, aus dessen Höhlen, die meisten Steine für die zahlreichen römischen Denkmäler und Bauwerke dieser Gegend gebrochen wurden. Heute sind diese Höhlen begehbar und jedes Jahr kann man bei einem Rundgang durch die riesigen Höhlentunnel Projektionen alter Meister bewundern, die mittels sehr vieler angebrachter Beamer die ganze Unterwelt von Les Baux-de-Provence mit den „Carrieres des Lumieres“ in ein Meer von Licht und Farbe tauchen. Außerdem ist die weitläufige und faszinierend ineinander verschachtelte Burg eine Besichtigung wert. Von der Höhe genießt man einen weiten Blick ins Rhonetal, auf Avignon, zum Mont Ventoux und das Tal der Durance. Im nächsten Jahr wird das Höhlenlabyrinth mit Werken von Picasso illuminiert.
Ortschaften, die man sehen sollte, wenn man sich die Zeit dazu nehmen will: Roussillon, Lioux mit der Falaise de la Madeleine, Cavaillon, Isles-sur-la-Sorgue, Apt, Bonnieux, Menherbes, Lacoste, Lourmarin, Fontaine-de-la-Vaucluse, Aix-en-Provence, Castellane, Tarascon.
Bei eventuellen Fragen kann man den Autor über philosophiekunst oder über wneisser@nicer-art.de kontaktieren.
Wolfgang Neisser am 21. Oktober 2018