Ich sitze auf einem bequemen Sofa vor einem sehr großen Fenster in unserem Apartment unmittelbar am Vieux Port in Marseille, in einem der mehrgeschossigen Massivhäuser, die nach der Sprengung des Panier-Viertels durch die Nazis, n den Fünfziger Jahren errichtet wurden, solide Architektur mit grobschlächtigem Charme und schaue auf einen strahlend blauen Winterhimmel. Allmählich erhole ich mich von der Reise, das lange Sitzen, das ständige Aufpassen, das Navigieren, auch als Beifahrer muss man immer präsent sein. Jetzt entspanne ich mich und freue mich auf die großartige Mittelmeermetropole im Januar.
Mit lädiertem Hals, einer Mandel-Kehlkopf-Stimmband-Reizung, fuhren wir morgens in Köln los, um zunächst meine Tochter und ihren Mann in Bregenz/Vorarlberg am Bodensee zu besuchen. Die Strecke misst ungefähr 600 km und der Tag begann schon gruselig viel zu grau, viel zu triste und lediglich mit dem Ansporn schnellstens wegzufahren. Bis Frankfurt der übliche Nebel- und Fieselregen-Grauschleier im Westerwald und im Taunus, über das Frankfurter Kreuz und unter den herunterschwebenden Flugmaschinen, weiter am Main entlang. Wir haben die Strecke über Würzburg gewählt, weil diese Autobahn weniger befahren ist und man nicht durch das stets verstopfte Schreckenstal von Stuttgart stottern muss. Hanoi.
Im Spessart begann es allerdings heftig zu schneien und innerhalb weniger Minuten waren die Fahrbahnen mit einer weißen Schneeschicht bedeckt. Parallel entlang der berühmten romantischen Straße, Ochsenfurt, Rothenburg ob der Tauber, Dinkelsbühl, um die bekanntesten zu nennen, ging es flott voran und und bald waren wir in Memmingen, um dann die Autobahn Richtung Lindau zu nehmen. Um 16 Uhr trafen wir in Bregenz ein, die Seebühne lag theatralisch gerupft am Ufer und die künstlerisch aufgemotzte Perle Vorarlbergs schien in einen leicht beleidigten Wintertrauma zu stecken. Im Sommer ist Bregenz eine niedlich ins kitschig pittoreske driftende, österreichische Bilderbuchstadt mit Vorarlberger Ländlecharme oder -schrecken, je nachdem wie der Besucher das Parameter seiner Befindlichkeiten einschätzt. It´s a rich men´s world, der Hader Josef hätte seine lichterlohe Freude an den Berglern. Die besonders erfreulichen und schönen kurzweiligen familiären Stunden lasse ich aus, weil sie nur für uns wichtig und interessant sind und vor allem im weltweiten webchaos nichts zu suchen haben. Hände weg von Facebook, Instagram und Co.
Am anderen Morgen sind wir wiederum gegen neun Uhr gestartet und haben die gesamte Schweiz von der nord-östlichsten Ecke im Allgäu bis zum südwestlichsten Zipfel unterhalb der Mont-Blanc-Bergmassivs durchquert. An Rorschach und St. Gallen vorbei, Zürich links liegen lassend und weiter bis Bern, um dann durchs Waadtland zum Genfer See zu gelangen. Es ist bei schönen, sonnigen Wetter immer ein Erlebnis aus dem Berner Oberland zum See hinunterzugleiten, besser oder genauer kann man die Qualität der Schweizer Autobahnen nicht beschreiben. Am Horizont öffnet sich der in der Mittagssonne glitzernde Lac Leman, der einem nassen und trägen Wal gleich unterhalb einiger Viertausender seinen satten Winterschlaf hält. Lausanne, da habe ich vor fast vierzig Jahren eines der besten Käsefondues in einem typischen Vaudois-Restaurant verzehrt und soviel Himbeergeist auf den im Magen schwimmenden Gruyerekloß gegossen, so dass ich am anderen Tag mindestens das Matterhorn an Stelle meines Schädels vorfand. Das ist lange her und ohnehin verstehe ich heute kaum noch, wie man derartige Mengen dieses leckeren, aber gefährlichen Obstgiftes infundieren kann. Flugzeuge steigen auf, Flugzeuge verlassen den Himmel, Genf liegt in der Nähe.
In vielen Windungen klettert das Auto rund um Genf zur Schweiz/Frankreich-Grenze, um sich sich danach in atemberaubender Fahrt durch die steilen, monströs bedrohlichen Felsschluchten des Rotten/Rhonetales in das Lyoner Becken zu winden. An Nantua vorbei, wo die Brückenarchitektur einem Achterbahnkarusell ähnelt und zum Pont d´Ain, dem Ort, in dem wir die Übernachtung gebucht hatten. Es ist schon erstaunlich, was booking.com auf seiner website für Realitätsverfälschungen verbreitet und selbst den abgewracktesten Hotelschuppen als attraktives Schnäppchen verkauft. Allein der Begriff Schnäppchen ist immer eine unverschämte Lüge und es ist ein Va Banque-Spiel wie sehr man seinen Wahrnehmungen nach der Betrachtung der Bilder im web Glauben schenken kann. Aber im Haus war es warm und ruhig und das Frühstück war zumindest einigermaßen nährend. Die letzte Etappe an Lyon vorbei auf der A7 durchs Rhonetal, vorbei an den wohlklingenden an Köstlichkeiten erinnernde Namen Valence, Montelimar, Vienne, Orange und Avignon in die von der Sonne behütete, ja von ihr an über 300 Tagen gepachtete Provence. bei Montelimar beginnt der Süden, für uns Nordmenschen bedeutet es die Erfüllung vieler Hoffnungen auf eine Lebensqualität, die ich Petrarca gleich „aus vivendi“ nenne.
Den Mont Ventoux, der listigen und zuweilen bösen Mistralschleuder sahen wir nur in der Ferne, aber die ohne Vorwarnung zupackenden Böen ließen den Skoda hin und wieder ins Schlingern geraten – Steuer festhalten und durch – bei Vitrolles haben wir dann unseren obligatorischen Einkaufsmarathon in einem riesigen, mindestens 10 Fußballfeldern großen Einkaufszentrum des Carrefour-Imperiums zelebriert, der jeden großen deutschen IKEA-Markt klein und mickrig aussehen ließ.
Schließlich war es Samstag und das Wochenende in Marseille wartete mit einem leeren Kühlschrank, wie ich annehmen musste und dieses Manko sollte unbedingt mit den francophilen Gaumenverführern von der Salzbutter „Demi Sel Breton über die Saucisse pur Porc de Sanglier bis zur Pate Foie Creme und einem Trappist Rochefort No 8 b behoben werden. Über die A55 fährt man an dem ehemaligen Künstlerort L´Estaque, dem von Zaha Hadids entworfenen blau-verglasten Hochhauskeil und der Cathedrale de Major vorbei mitten ins Herz der multikulturellsten Hafenstadt der Welt – dem Vieux Port de Marseille.
Morgen oder beim nächsten Mal erzähle ich von der vergeblichen Suche nach einem kostengünstigen Parkhaus und einer Fahrt durch Marseille, die einer Schnitzeljagd für Paranoiker gleich kam.
Wolfgang Neisser