2. Teil
Der Pont de Normandie, eine der Brücken der architektonischen Superlative in Frankreich, führt uns direkt an die Grenze der Normandie zur Bretagne. Auf dem anderen Seineufer erwartet uns das Departement Calvados, wer denkt da nicht gleich an kleinen Gläschen mit gebrannten Apfelwundertrunk. Bald umfahren wir die Städte Caen und Bayeux (der berühmte Teppich), aber bis in den Süden sind es noch über 450 km. Wir lassen St. Malo nördlich liegen und auch den in unmittelbar Nähe aus dem Sand des Schlickbodens emporragenden Mont St. Michel, der nach meiner Erfahrung und meiner Gemütslage viel besser im Film oder auf Fotos zu bewundern ist. Wenn die Saison beginnt, strömen Menschenmassen zum Weltkulturerbe, dessen außergewöhnliche Lage und architektonische Gestaltung ohne Zweifel sehenswert ist. Die profan sakralisierte Erhebung aus dem Meer, näher mein Gott zu Dir, erleidet im Zeitalter des Massentourismus das gleiche Schicksal wie die Ludwig-Schlösser bei Füssen, der Eiffelturm oder der schiefe Turm von Pisa; alle Touristen wollen diese geschichtsträchtigen Monumente vergangener Epochen unbedingt mit eigenen Augen sehen. Allerdings muss jeder Besucher damit rechnen, dass um einen herum weitere tausende Augenpaare den gleichen Wunsch verspüren. Die Parkplätze auf dem Festland südlich des Hügels im Meer sind von Juni bis Ende September immer so überbelegt, dass ich von vorneherein der Weigerung nachgebe, wie ein frustrierter Spürhund irgendeine leere Parkbucht zu suchen und zu finden. Dieses Gekurve durch die Autoreihen nervt dermaßen, dass ich jedem empfehle, sich den sehr schönen Dokufilm anzuschauen, den man sich per Stream herunterladen kann. Automobile, Wohnmobile, Mobilmobile stehen dicht an dicht sowie alles andere, was vier oder zwei Räder unter einer entsprechenden Karosserie montiert hat. Der Pilgerstrom ähnelt einer Massendemonstration, wie es gläubige Zeitgenossen von Lourdes oder Fatima her kennen. Zudem stört mich die Smartphoneknipserei, die im Pilgerstrom Ähnlichkeit mit einer Armhochkundgebung einer nicht so nachahmenswerten Zeit der jüngeren Vergangenheit hat.
Unweit davon kann das große Gräberfeld des Soldatenfriedhof St. James besichtigt werden, unter dessen Erde die Gebeine vieler Soldaten liegen, die nach der Operation Overlord, der Landung in der Normandie, bei den Kämpfen um Avranches und St. Malo ums Leben gekommen sind. In der in Deutschland verbreiteten und medial erzählten Geschichtsschreibung scheint es in diesem Zusammenhang immer nur um die Strände Omaha-, Sword-, Gold- und Utah Beach zu gehen, wenn vor und nach diesbezüglichen Gedenktagen mal wieder redundant über die Landung bei Bayeux und Cabourg berichtet wird. Bislang wissen nur wenige, die an der Geschichte der Befreiung Europas interessiert sind, dass auch die Kämpfe in der Bretagne, vor allem wegen der von den deutschen Usurpatoren eingenommenen Seefestungen Brest, St. Malo und Lorient, die mit mörderischer Verbissenheit, vor allem auf nazideutscher Seite geführt wurden. Selbst als Paris schon befreit war, zogen sich die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Verbänden der Alliierten und den schon abgeschnittenen deutschen Armeen teilweise bis ins Jahr 1945 hin. Ende September 1944 hieß es, dass die größten Gebiete der Bretagne befreit wären und nur in einigen Regionen noch Widerstand geleistet würde. Das ist eine Verniedlichung der Zustände, denn die Kommandeure der deutschen Truppen hielten am sogenannten „alternativlosen Führerbefehl“ fest und erklärten Städte wie Brest, Quimper, Vannes, St. Nazaire oder Lorient zu Festungen. Bis zum letzten Blutstropfen halten, verlangte der schon nahezu irr gewordene Führer Adolf in seinem Bunker in der Wolfsschanze und später im Berliner Untergrundversteck. Bis zum offiziellen Kriegsende am 8. Mai 1945 klammerten sich fanatische Nazigeneräle an diesen irrationalen Befehl und die Städte Lorient und St. Nazaire standen bis zur bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945 unter nazideutscher Verteidigungspräsenz. So starben sehr viele Soldaten, ohne dass irgendein strategisches Ziel hätte erreicht werden konnte, aber Soldaten sterben mit und ohne Sinn, wenn sie sich in Todesangst gegenüberliegen und nur hilflose Marionetten in den Händen verblendeter Anführer sind. Übrigens wurden die Städte Brest und Lorient ähnlich wie Le Havre in dem pausenlosen Geschützfeuer und der Luftbombardierung nahezu vollständig zerstört, auch weil gerade in diesen beiden Häfen große U-Boot Stützpunkte in den Fels gesprengt worden waren und von meterdicken Betonummantellungen geschützt wurden. Der deutsche Wahnsinn sollte laut dem kleinen Joseph G. schließlich mindestens 1000 Jahre überdauern. Diese Illusionsparole zerbrach aber an Versorgungsengpässen, Nachschubproblemen, unergründlichen strategischen Überheblichkeiten und einer morbiden und ausrangierten Herrenrasse, die das größte Verbrechen (Stalins Säuberungen ausgenommen) des 20. Jahrhunderts begingen. Deutschsein führt bisweilen immer noch zu atmosphärischen Störungen, wenn man aktuell die nordfranzösischen Departments besucht.
Neue oder des Landes unkundige Bretagnereisende werden überrascht sein, dass es nur eine offizielle Autobahn gibt, auf der Mautgebühren erhoben werden und bis Rennes haben wir vielleicht 9 Euro in die Schlitze der Automaten an den sogenannten Bezahlbahnhöfen stecken müssen. Danach verwandeln sich die großen Routes Nationales in Autobahnen, ohne dass die Benutzung bezahlt werden musste. Hinter Rennes mussten wir uns südlich halten, um in den Golf du Morbihan zu gelangen. Bis Vannes, das nur noch 20 km von unserem Zielort entfernt war konnten wir ohne Stress mit Tempo 120 fahren, um dann über kleinere Straßen Baden-Larmor zu erreichen. Dann begann die nervtötende Beziehung zwischen dem Ersatznavi, dem Internet und den tatsächlichen Straßen, weil die Navigation mit google.maps und der Bretagne keine Freundschaft geschlossen haben, geschweige nützliche Partner für den Reisenden waren. Nach mehreren Umwegen und Unübersichtlichkeiten näherten wir uns langsam dem Ziel der Reise, der Rue de la Fregatte. Als wir diese Straße endlich erreicht hatten, rief ich den Vermieter an, um in das lang ersehnte Haus unserer bretonischen Wochen einziehen zu können.
Ich rief mehrmals an und nach etlichen vergeblichen Versuchen, höre ich seine Stimme an meinem Ohr, die verspricht, sofort zu uns zu kommen, um uns einzuweisen. Dieses Sofort, was hätte ich auch anderes erwarten können, dauerte noch eine knappe Viertelstunde, bis sein Pickup mit darauf geschnallten Schlauchboot hinter uns auftauchte. Ihm folgend, sahen wir endlich das Haus unserer Buchung und Begierde.
Der Gastgeber nennt sich Jerome, ein etwa 40 bis 50jähriger Mann, der in lässiger Manier aus dem Auto klettert, seine jüngere Frau oder Freundin „in unser Haus“ schickt, im lässigen Wiegeschritt auf uns zukommt und uns mit einem aufgesetzt erscheinenden Lächeln begrüßt. Das scheint ein lockerer Typ zu sein, denke ich, und nachdem wir die ersten Artigkeiten der Belanglosigkeit ausgetauscht haben, dränge ich darauf, unser Haus zu okkupieren, um uns zu „installieren“, wie man in Frankreich zu sagen pflegt. Er ist sofort einverstanden, geht aber an „dem bewussten Haus“ vorbei und zeigt uns hinter dem uns bekannten Haus unserer Buchung, das wir gleich aus der Erinnerung des Fotos identifiziert hatten, ein weiteres, aber kleineres und unscheinbareres Gebäude. Er führt uns in ein kleines Gite, welches teilweise hinter einer Bretterwand versteckt ist. Dieses Haus kenne ich nicht und es war auf dem Foto auch nicht abgebildet. Er führt uns herein und vom ersten Augenblick an weiß ich, dass ich hier nicht bleiben werde, nicht bleiben werden kann. Eva balanciert in ihrem seelischen Gleichgewicht ebenfalls, hin und her, was ich an ihrem Gesichtsausdruck ablesen kann. In dem Haus scheint alles für die Belange von Feriengästen der vornehmlich außerhäusig geprägten Verhaltensweisen arrangiert zu sein, die keinen Wert auf ein wohnliches Ambiente legen und wahrscheinlich „die unansehnliche Hütte“ nur zu den Mahlzeiten und zum Schlafen nutzen. Allein die Küche, ein Raum, der für mich immer große Bedeutung besitzt, lässt meinen Ablehnungspegel noch weiter sinken. Hier finde ich nur das Allernotwendigste und sie lädt nicht gerade dazu ein, schöne Mahlzeiten zu kochen und auf den Tisch zu bringen. Daneben der „Salon“ oder das Wohnzimmer oder der unansehnliche Aufenthaltsraum mit Fernseher und abgewetzter Couch.
Mir fehlen die Begriffe, um es genauer beschreiben zu können. Alles, was so einen Raum einladend und erträglich machen kann, ist nicht vorhanden, allerdings habe ich inzwischen sehr viel vergessen oder inzwischen verdrängt. (Es ist ja schon eine Woche her) Zu den Schlafgelegenheiten müssen wir eine sehr steile und knarzende Treppe im Winkel von fast 50 Grad und mit scharfer Kurve hinaufklettern. Das sogenannte Doppelbett, die grand lit, entpuppt sich als Ausziehcouch, die Einzelbetten im anderen Zimmer sind Matratzen und zwischen allen Türen und der Treppe liegt ein vollkommen leerer Zwischenbereich, in dem immerhin noch eine Matratze auf dem Fußboden herumlümmelt. Jerome lächelt unentwegt, Jerome scheint sich als wirklich cooler Typ zu fühlen, wie er da in seinem Leinenschlabberlook den Proprietaire gibt, unablässig schwadroniert und unser neues Domizil als perfektes Ferienglück zu verkaufen versucht. Er scheint absolut davon überzeugt zu sein, dass diese Absteige etwas ganz Besonderes sei.
Es ist Samstag, wir haben vorher schon einen Großeinkauf hinter uns gebracht und wissen, dass diese Situation zu einem Hindernislauf zwischen Sein und Schein, Betrug und Wahrheit, Kompromiss und Ablehnung und vor allem einem Kommunikationsproblem zwischen uns und Jerome führen wird. Wir sind fest entschlossen, nicht zu bleiben und beginnen sofort, eine neue Bleibe zu suchen, was wegen des folgenden Sonntag in den verbleibenden Stunden ein Kraftakt werden wird. Zunächst heißt es aber, den Hausherrn zur Rede zu stellen und den Kontrakt null und nichtig zu erklären.
Wir klopfen an seiner Tür und freundlich lächelnd, wie schon die gesamte Zeit, lädt er uns ein, hereinzukommen. Dann folgt sein Erwachen oder sein Widerstand, den wir erwartet haben. Nachdem wir alle Karten auf den Tisch gelegt haben, verschwindet sein Lächeln und er versucht verwirrt, auf seinem Computer die webseite zu finden, die sich als Auslöser eines Missverständnisses oder einer betrügerischen Handlung herausstellen wird. Ich beginne zu zweifeln, ob er überhaupt im Bilde ist, weil er im web seine Seite nicht findet und beginnt zu diskutieren. Alles sei in Ordnung, villeicht hätten wir einen Fehler gemacht. Es gäbe zwei Inserate und in dem einen wäre ein Zimmer in seinem Haus?!? als Angebot zu finden und in der anderen Offerte das Gite, welches wir jetzt bewohnen sollen. In meiner Erinnerung, die inzwischen auch sehr gelitten hat, ziehen wir uns zunächst zurück und versuchen miteinander eine praktikable Lösung zu finden. Zunächst rufe ich meine Tochter und deren Mann an, dass sie unsere Angaben überprüfen sollen, denn zu allem Unglück funktioniert auch das Internet nicht, weil in der Küche nur ein sehr kleiner Repeater offensichtlich mit einem Router in dem anderen Haus verbunden ist, aber kein Signal empfängt. Oder ist vielleicht das freie Netz gemeint, welches den Bewohnern des Dorfes und Touristen zur Verfügung steht? Wir wissen es nicht und kriegen es auch nicht raus. Toll, das nenne ich den Weg in das Land von Murphys Gesetz.
Ich bin sehr aufgeregt und wütend und würde am liebsten, dem ganzen Schlamassel nicht nur einen Tritt geben, sondern Jerome bei der Polizei anzeigen und sofort wieder abreisen. Dieses Ansinnen ist natürlich völlig absurd und ein aktionistischer und undiplomatischer Unsinn, weil wir verderbliche Sachen wie Butter, Fisch und Fleisch eingekauft haben und sicherlich bis Montag nichts Adäquates finden werden. Ohne Internet ist es vollkommen zwecklos, weil sich mit den eingeschränkten Funktionen des iphone nicht viel ausrichten lässt. Was nun sprach Zeus, die Götter sind irre geworden?
Jerome klopft wieder und wir bitten ihn, so schnell wie möglich das Internet in Ordnung zu bringen. Das ist sehr wichtig, weil wir schon bei unserem ersten Disput darauf bestanden haben, den Kontrakt sofort zu lösen, um unsere schon bezahlte Miete wieder zurückerstattet zu bekommen. So geht es eine Weile hin und her und erst als wir anhand von Screenshots beweisen können, dass seine Anzeige im Internet nicht nur missverständlich, sondern auch hochgradig in der unmittelbaren Nähe eines Betrugsversuches umherschwirrt, bemerke ich in Jeromes Verhalten den Weg zur inneren Kapitulation. Texte und Fotos der Anzeige ergeben schließlich eindeutig, dass Jerome einen großen Fehler gemacht hat (nennen wir es mal so) und dass er eingesehen hat, dass wir mittels seiner Anzeige einer falschen Information aufgesessen sind, die uns vorgegaukelt hat, dass sein Haus das eigentliche von uns angemietete Gebäude sein müsste. Die Unterschiede zwischen dem kleinen Gite und dem Haus von Jerome sind nicht zu übersehen und in der Anzeige wird lediglich sein Wohnhaus gezeigt. Vom Gite ist nur eine kleine Ecke der Wand zu sehen, ansonsten wird es von der gesamten Fassade seines Hauses verdeckt. Ich bin überzeugt davon, dass die Aufnahme bewusst so geschossen wurde, um von der Schlichtheit des kleinen Hauses abzulenken.
Auch wenn wir einer Lösung zwischen uns, also Jerome und uns, sehr nahekommen, gibt es immer noch das Internetunternehmen, das irgendwo in Irland oder auf den Jungfraueninseln seinen steuerfreien Stammsitz hält und jeden, ob er mietet oder vermietet, in ein Labyrinth der kommunikativen Fallstricke, Fußangeln oder Unmöglichkeiten schiebt, aus dem ein Entrinnen nur unter Aufbietung aller einzusetzenden geistigen Kräfte möglich ist. Der Kontrakt ist in einer als Regeln getarnten Abmachung nur unter Einbeziehung aller Vorschriften seitens des Anbieters aufzuheben, was diplomatisches Geschick erfordert. Inzwischen hat Jerome zumindest das Internet im Gite an seinen Server und Router angeschlossen, so dass auch wir wieder in die große weite Welt der Informationen, Suchmaschinen und Unerlässlichkeiten der drahtlosen Geschäfte zurückkehren können.
Natürlich könnten wir Jerome als Betrüger anschwärzen, aber auch das hätte nichts gebracht, weil diese Option einen weiteren Schwanz an neuen Erklärungen und Aussagen nach sich gezogen hätte. Diese Vorgehensweise lassen wir fallen und finden dann am anderen Tag gemeinsam mit Jerome (sic, sic) die Lösung. Wir ändern die Mietdauer auf zwei Tage und müssen Jerome bitten, diese Maßnahme durchzuführen. Dafür verschonen wir Jeromes Reputation bei dem Reiseunternehmen, weil eine fristlose Kündigung noch größere Turbulenzen ausgelöst hätte und Jerome in eine nicht ungefährliche Zwangslage seines Vermieterdaseins gedrängt hätte.
Von Samstag Abend bis in die Nacht suche ich von nun an ein entsprechend einladendes Haus, das uns als Ersatz dienen kann. Wir beschließen nicht nur im Golf zu suchen, sondern unsere Fühler auch im Department Côte d´Armor auszustrecken. Nachdem ich fast alles examiniert habe, was für uns in Frage kommen könnte, bleiben zwei Häuser bei Guingamp übrig. Das eine Haus gefällt mir sehr, ein altes Steinhaus, welches liebevoll eingerichtet ist und alle Vorzüge aufweist, die wir für uns erwarten (es sei hiermit festgestellt, dass wir keineswegs überzogene Vorstellungen haben, aber das Minimum muss schon erfüllt sein). Die Besitzerin antwortet in freundlicher Weise, fügt aber an, dass in der Nähe Bauarbeiten seien und dass unter Umständen das Internet nicht so zuverlässig sei. Ich will das Haus mieten und eine Mail über drei Anfragen pendelt zwischen ihr und mir hin und her, die Diskussion hat begonnen. Zwischen ihren Antworten suche ich weiter und stoße auf Jacques. Jacques bietet ein Haus in einem Vorort von Guingamp an („Vorort“ von 8000 Einwohnern?!?) an, das für vier Wochen verfügbar ist. Fünf Wochen wären ohnehin passé gewesen, da im Juli ganz Frankreich mit den Hufen scharrt und an irgendeiner Küste des Landes die Ferien genießen will, wenn ich mir erlauben darf, dass der Begriff Genuss in dieser Hinsicht sehr weitläufig zu umschreiben ist. (Oh la la, les Francais et des vacances, parfois une histoire gallactique). Jacques signalisiert, dass er sofort bereit ist, uns aufzunehmen. Ich vermerke sein Angebot, weil unser Dilemma mit Jerome noch keinen zufriedenstellenden Abschluss gefunden hat. Annie, die zweite Vermieterin hat inzwischen herausgefunden, dass die Bauarbeiten nur kurz angesetzt sind und keinen Hinderungsgrund darstellen. Aber das Internet, sie weiß es eben nicht genau, ob es so funktioniert, wie wir es wünschen. In der Hoffnung, am anderen Tag entweder mit Jacques oder wegen meiner mit Paul, Annie, Yves, Mathilde, Lady Gaga oder Marie Antoinette einen wohlmeinenden Vermieter zu finden, gehen wir schlafen und hoffen, dass es der Sonntag und auch die weiteren Tage besser mit uns meinen. Klar ist aber, dass wir am Montag Morgen abreisen werden, egal wohin und egal ob unsere Nerven nicht einer Spontanheilmethode aus dem Bereich Psychokur unterzogen werden müssen.
Sonntag, der Tag der Entscheidung. Dass mich die gesamte Chose ordentlich mitgenommen hat, brauche ich nicht zu erwähnen, Eva geht es nicht viel besser, aber zumindest nutzt sie die Gelegenheit, sich in dem Ort und dessen Umgebung umzuschauen. Ich kann so etwas nicht, für mich ist alles verbrannt, was mit Jerome, Morbihan, Entspannung, Vertrauen oder Wohlfühlen in Verbindung zu bringen ist. Dieser Zustand bleibt so lange, bis alles in trockenen Tüchern ist.
Der Besitzer und nur der Besitzer kann canceln, wenn man das bezahlte Geld zurück überwiesen haben will. Also vereinbaren wir eine Mietdauer bis Montag Morgen und fordern Jerome auf, unverzüglich zu zustimmen. Kein Problem, wirft er ein, versucht aber mit unermüdlichen Bemühungen uns in dem Kontrakt zu behalten, indem er eine Schwarmoffensive startet, die auf jedem schmierigen Productchannel des 87 Kanals im Fernsehen Platz gefunden hätte, aber eigentlich nur peinlich ist. Eva und ich halten uns zurück, denn ich weiß, dass ohne sein Canceln, also seinem PLACET, alles umsonst sein würde. Nachdem er alle vermeintlichen Annehmlichkeiten eines Verbleibens aus seiner Trickkiste der Überredungsmasche verschwendet hat, ist es mir leid und ich fordere ihn höflich auf, die Chose seinerseits mit Druck auf einen Button zu beenden. Das macht er dann auch und wir atmen auf. Kurze Zeit später ruft uns mein Schwiegersohn an und trägt uns zu, dass Jerome vielleicht danach wieder alles zurückgenommen haben könnte. Er kann das sehen, weil ich ihm in Berlin während unserer erzwungenen „Internetpause“ den Zugang zu meinem Account mitgeteilt habe. Die Stimmung sinkt sofort wieder um 10 Minuspunkte. Wir stellen Jerome zur Rede, der felsenfest behauptet, den Vorgang abgeschlossen zu haben, woraufhin er zu uns kommt und einen Laptop mitbringt. Gemeinsam schauen wir uns die digitale Wehrburg des Internetanbieters an und tatsächlich ist der button „Cancel“ noch immer nicht final gedrückt worden. Mein innerer Vulkan droht auszubrechen und mein Blutdruck würde bei einer aktuellen Messung den Zeiger der Anzeige zum Rotieren bringen, soweit haben mich diese anstrengenden Stunden schon heruntergezogen. Diese miesen und in meinen Augen betrügerischen Methoden kann ich nicht länger aushalten. Meine Geduld ist am Ende.
Jerome fängt wieder an, seine Leier von Freude, Friede und Glücklichsein in seiner Hütte weiterzuspinnen und es endet letztendlich damit, dass er uns sogar noch seine Lebensgeschichte erzählt, dessen Ende durch viele Irrungen und Wirrungen sein Haus als das „Happy House“,darstellt, das glücklich machen kann.
Jau, nun ist seine Gurgel stark gefährdet, nun laufe ich Gefahr, als Protagonist eines Mordes an der Bretagneküste in die Geschichte einzugehen. (siehe Kommissar Dupin) Eindrücklich verweise ich auf den alle zufrieden stellenden Knopf namens „Cancel“ – (hier, hier, drück endlich du Schwachkopp) und sage, dass er jetzt, JETZT, bitte diese eine letzte Handlung vornehmen soll. Sein Finger auf dem Bildschirm leitet die Befreiung ein. Tätä. Es ist geschafft. Nur noch den Sonntag hinter uns bringen und dann spannen wir die Pferde wieder an.
Montag. Wir frühstücken. Eva räumt schon alles zusammen, während ich mich um die Reiseroute und andere wichtige Formalitäten zu unserem neuen Domizil kümmere. In der Einfahrt steht ein fremder Wagen und Jerome denkt gar nicht daran, diesen an einer anderen Stelle zu parkieren, damit wir unseren Wagen bis vors Haus fahren können. Immerhin sind es über 50 Meter und wir haben wirklich sehr viel Gepäck mitgenommen. Eva hat keine Lust, ihn zu bitten und ich bin es leid, diese bewusste Behinderung mit einer verbalen Eingabe als forsche Bitte zu formulieren. Gegen elf Uhr fahren wir los. Vorher reiße ich mich noch einmal richtig zusammen und verabschiede mich persönlich. Die höchste Stufe seiner Phantaisen, die er am Tag zuvor en passent erwähnt hat, nachdem er meine Bilder auf dem Laptop gesehen hat, liegt in dem Wunsch, die Geschichte unserer Begegnung mit der Umgebung und dem Haus als Bild in meinem Stil zu gestalten. (Ich hatte von meinen Städtebildern erzählt)
Geht´s noch, wo bitte ist die nächste Zwangsjacke. LANGER GEDANKENSTRICH. Hinter mir steht ein großer Affe und versucht mit einem kräftigen Biss die dicke Laus auf meinem Nacken zu knacken. Wann fängt Verzeihen an und wie kann man Verfluchen verstehen, wenn dauernd die gesamte Irrniss der Welt um einen herumtanzt.
Bis nach Guingamp im Norden sind es 114 km und wir sind froh, noch einmal entkommen zu sein. Wann wir das Geld zurückbekommen, 250 Euro wurden schon abgezogen, weiß ich nicht, ich weiß aber, dass ich die Sache, wenn wir wieder zurück in Köln sind, nicht auf sich beruhen lassen werde.
Jacques. Seit Montag leben wir in einem Haus, das alle Erwartungen noch übertrifft. So perfekt ist es eingerichtet, dass es wie ein Wunder erscheint. Jacques und seine Frau oder umgekehrt, die sich nicht an meiner fehlenden Gendersensibilität stören werden, sind wunderbare Gastgeber. Bis Mittwoch bekamen wir auch etwas von der Hitzewelle mit, die hier mit ca. 30 Grad den Bretonen schon fast zu heiß erschien. Aber in der Bretagne dauert es nicht lange, wenn die Hitze Kapriolen schlägt. Über Nacht setzt ein leichter Nieselregen ein, wie es sich jetzt seit gestern Morgen wieder in einem für Bretonen als Normalzustand zurück verwandelt. Allerdings muss an dieser Stelle deutlich gemacht werden, dass die Niederschlagsmenge in der gesamten Bretagne wesentlich niedriger ist als in anderen Teilen Frankreichs, ausgenommen dem äußersten Süden. Alles kann sich über Nacht wieder ändern und die Sonne scheint wieder – nicht allzu heiß, aber erträglich. Die Meteorologie hängt hier sehr stark vom Mond und einem Tiedenhub ab, der zwischen Ebbe und Flut um 14 Meter beträgt. Wer Guingamp noch nicht kennt, dem gebe ich einen Tipp, den ihr selbst herausfinden müsst: 1 Liga Französischer Fußball. War doch ganz einfach, oder?
Über die Brücken
Frankreichs Brücken der zeitgenössischen und mutigeren Architektur haben eins gemeinsam, sie sehen spektakulär aus. Als ich 1974 mit dem Rad von der Loire zur
Ile d´Oleron fuhr, überquerte ich zum ersten Mal das Meer auf einer Brücke, die vom Festland bei Marennes (Austernzucht) bis Le Chateau d´Oleron führte. Viaduc d’ Oléron genannt misst diese Brücke 2.862 m und mit dieser Verbindung wurde die Insel für den Autoverkehr angebunden, denn der Tourismus forderte überall schnelle und unkompliziert erreichbare Verbindungen, um wie hier den Urlaubspulk die langsamere und eingeschränktere Überfahrt mit einer Fähre zu ersparen. Wenn wir durch das Zentralmassiv ins Languedoc fuhren, verband die Brücke von Millau die beiden Ufer des Flusses Tarn mit einer der Atem beraubensten Baukonstruktionen der letzten 20 Jahre. Das Viaduc de Millau gehört zur Autobahn A75 und wurde von Michel Virlogeux entworfen und 2004 eröffnet. Der weltbekannte Architektenguru Norman Foster brachte gestalterische Ideen ein und adelte das Bauwerk damit. Später musste auch die Abgeschiedenheit der Ile de Re mittels einer Brücke aus dem Dornröschenschlaf geholt werden, war die Insel bis zur Einweihung der Brücke 1988 der Geheimtipp besser begüteter Zeitgenossen. Diese Brücke misst 2926,5 m und ist vom Außenbezirk La Rochelles bis zur Südspitze Sablanceaux auf der Insel Re in einer 3km langen Biegung gespannt. Als Baumeister werden Charles Lavigne und wiederum Michel Virlogeux genannt Lavigne, der auch für den Pont de Normandie und den Ponte Vasco da Gama bei Lissabon verantwortlich zeichnete, gehört zur ersten Garde der Brückenkonstrukteure in Europa. An der Loiremündung bei St. Nazaire steht eine der schönsten und majestätischsten Brücken, die mit 3356 Meter Länge und 61m lichter Höhe die größte Schrägseilbrücke der Welt ist. Die Höhe war Bedingung, weil in den Docks der großen Hafenstadt auch übergroße Schiffsmonster gebaut werden wie beispielsweise die Queen Mary 2. Allerdings scheint die Stahlkonstruktion die salzhaltige Luft am Atlantik nicht so gut zu vertragen, weil schon viele Bauteile wegen Erosion ausgewechselt werden mussten. Trotzdem strahlt die schlangenförmige Konstruktion eine besondere Ästhetik aus, die ihresgleichen sucht.
Erwähnenswert ist noch der Pont Transbondeur bei Rochefort über die Charente, die schon 1900 in Betrieb genommen wurde und früher als Hub- oder Schwebebrücke diente, indem eine sehr große Gondel Fahrzeuge und Menschen hoch über dem Fluss ans andere Ufer brachte. Heute steht die Brücke unter Denkmalschutz und zieht viele Touristen an, weil sie die einzig verbliebene Hubbrücke in Frankreich ist. In Marseille stand ebenso ein Exemplar dieser Konstruktionsart am Vieux Port, die 1944 zum Ende des Krieges vollständig zerstört wurde. Bei Bilbao in Portulagete ragt seit 1893 eine Hubbrücke oder Schwebefähre über die Mündung des Nervion, die Puente de Vizcaja, mit der ich vor einigen Jahren nach Getxo übersetzte.
Der Pont Normandie über die Seine-Mündung, konstruiert von Charles Lavigne, muss überquert werden, um bei den heutigen Straßenverkehrsverhältnissen so schnell wie möglich in die Bretagne zu gelangen. Bevor sie gebaut wurde, fuhren Automobile über Landstraßen und nutzten Brücken bei Rouen, später wurde 15 km westlich von Le Havre die Brücke von Tancarville errichtet, um der Stadtdurchfahrung von Rouen Entlastung zu ermöglichen.
Wolfgang Neisser
Guingamp, 18. Juni 2021