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Fatales, Absurdes und Skandalöses

Lange Zeit habe ich es prinzipiell abgelehnt, mir Talk-Shows anzuschauen, obwohl ich immer wieder beim Zappen bei einer dieser „Quasselbuden“ hängenblieb, schließlich werden in den Abendprogrammen der für mich adäquaten Sender ARD, ZDF, 3Sat, arte, Phoenix und WDR sehr viele dieser von speziellen Redaktionsteams und Produktionsfirmen konzipierten Sendungen ausgestrahlt.

Die Ablehnung geschah auch deswegen, weil ich am Ende dieser Medien-Emissionen meistens ratloser oder erzürnter war als zuvor. Der Vorhang zu und alle Fragen offen. Alles fing in den 70er Jahren mit dem Boulevard-Talks an, die spätabends gesendet wurden. Als dann Sabine Christiansen, Günter Jauch, Maybrit Illner und andere sich befähigt fühlten, scheinbar dickere Bretter gesellschaftspolitischer Relevanz zu bohren, war das Ergebnis oft nur peinlich und erhielt wie die Bild-Zeitung einen Beliebigkeitsrekord.
Aber wen wundert es, dass in den Abendprogrammen der deutschen Sendeanstalten sogenannte Unterhaltungssendungen ausgestrahlt wurden, die das Langeweilegefühle am Wochenende so strapazierten, dass viele das anschließende „Wort zum Sonntag“ als direkten Draht nach ganz oben begriffen. Heute kann man sich nur wundern, dass die Fernsehgebühren mit „Degeto“-Schmuse-Produktionen,  „Verstehen Sie Spaß“ oder „Frag doch mal die Maus“ verschwendet werden. Es wundert auch keinen mehr, dass bei den sonntäglichen Tatorten (für mich „Tarot“) zwischen Kiel, Köln, Weimar und Wien Krimiproduktionen zusammengeschustert werden, deren Drehbuchkonstruktionen jenseits der Wirklichkeit vor sich hin dümpelnd an uns vorüberglitten. (mit wenigen Ausnahmen, die allerdings sehenswert sind). Denk ich an Deutschlands Fernsehprogrammen bei Tag und bei Nacht, wird in mir die Liebe zur Ästhetik umgebracht.

Seit Corona-Zeiten sehe ich mir sonntags Abend seit einigen Wochen die Talk-Runde Anne Will an, allerdings achte ich vorher darauf, welche sogenannte Promitalker aus welchen Berufsfeldern eingeladen worden sind. Sofern kompetente und glaubwürdige Soziologen, Ökonomen, Kulturforscher und Wissenschaftler als Gäste unter der üblichen Politprominenz zu finden sind, schalte ich ein. Wenn die Politikdarsteller nur unter sich sind, drücke ich aus Selbstschutz die Tilt-Taste. Auf das neoliberale Aufjaulen ob der kommenden Rezession und des eventuellen Niedergangs unserer Wirtschaft mit tausenden Insolvenzen verzichte ich gerne, das kann ich Tag für Tag in diversen Portalen im Internet nachlesen und so blöd bin ich auch nicht, wenn ich an die mannigfaltigen Folgen dieser Pandemie denke. Folgen, die alle auf einer Tatsache fußen: Kein Impfstoff, keine Medikamente und all die Versäumnisse, die man mehr als zwanzig Jahre zurückrechnen kann.

Meine gespannte Aufmerksamkeit gilt kontroversen und provokativen Diskussionen zwischen ausgewiesenen Fachleuten, populistischen Opportunisten und all den medial süchtigen Phrasendreschern aus Wirtschaft, Politik und vor allem den Sprachrohren des Industrie- und Systemlobbyismus. Das mag manchem als arrogante oder einseitig selektive Attitüde erscheinen, aber soviel Freiheit muss sein. Ich erinnere mich noch dunkel an die große Bankenkorrosion 2008 und auch an die kleinere Pandemie Sars CoVid-1 2003.

Am 26. April debattierten die Gäste Karl Lauterbach, Annalena Baerbock, Christian Lindner, Armin Laschet und Christina Berndt dermaßen kontrovers, dass der Schlagabtausch zwischen den einzelnen Protagonisten endlich Spannung, Meinungsverschiedenheiten und aufdeckende Erkenntnisse vermittelten. Eine brisante Mischung. Warum Christian Lindner überall und jederzeit in Talk-Shows eingeladen wird, verstehe ich zwar nicht, aber andrerseits ist es aufschlussreich, welcher Visison oder Ideologie die FDP als Wurmfortsatz-Überbleibsel der sogenannten Altparteien anhängt. Die Expertisen und Fakten, die Karl Lauterbach äußerste, nahm zumindest Laschet und Lindner immer wieder den Wind aus den Segeln. Und Laschet verstrickte sich dermaßen in Widersprüchen, dass man sich wundern muss, wie NRW überhaupt aus der Krise herauskommt. Die Grüne Baerbock war seltsam zurückhaltend, was einerseits verständlich ist, weil die Grünen in der Coronastory kaum auffallen, aber andrerseits hätte sie die Zusammenhänge zwischen Klima und Pandemie eindeutig verständlich erklären können. Die sozialen Aspekte, die oft zu kurz kommen, werden von den Grünen immer noch nicht vehement genug in den Mittelpunkt ihrer Zukunftsperspektiven eingeflochten.  

Die manipulierenden Interessenvertreter, wie man Lobbyisten eigentlich nennen muss, der Verbände, der unterschiedlichen Institute und die üblichen Wirtschaftserklärer, die immer die gleichen, austauschbaren Wortblasen ablieferten, bewirkten lediglich, dass ich mir danach Bücher kaufen musste, um den geballten Phrasensalat zu überprüfen und widerlegen zu können. Auch 2015 bei der Migrantenwanderung von Nahost nach Mitteleuropa war es nicht viel besser und als ich persönlich einen Monat in Athen weilte, sah ich überall, was Unterlassung oder Falschmeldung war. Vieles was den Zuschauern oder -hörern Glauben gemacht wurde, musste anschließend revidiert werden. Ebenso empfehle ich, die abendlichen Nachrichtensendungen der einzelnen Sender miteinander zu vergleichen, damit klar wird, dass die Selbstdarstellung von Profilsüchtigen wenig Sinn hat und der Wahrheitsfindung wenig Nutzen bringt. Wenn man sehr genau auf die Themenwahl, die Prioritäten und auch die Rhetorik achtet, erkennt man sehr schnell, welche politische oder ideologische Richtung angepeilt wird. Zwischen den Nachrichtensendungen von ARD-Tagesschau, ZDF-Heute und RTL-aktuell entdecke ich gravierende Unterschiede in der semantischen Gestaltung der Botschaften oder Statements. Konservatives versus Liberales und Soziales. Eines der größten Dilemmata der aktuellen Krisensituation scheinen sich mir in den unterschiedlichen Wahrnehmungs und Inhaltsebenen zu eröffnen. Inzwischen gewinne ich den Eindruck, dass eine riesengroße Diskrepanz zwischen den Aussagen der Parlierenden und den daraus resultierenden, exekutiven Maßnahmen der Regierenden wie der Wirklichkeit und der Akzeptanz der Bevölkerung entstanden sind. Mit der ersten Meldung, dass das Virus in Bayern aufgetaucht sei, den ersten öffentlichen Meldungen und Warnungen und der sich sehr schnell ausweitenden Seuchenproblematik und den ersten Toten, stellte sich heraus, dass die gefällten Entscheidungen mit dem Verstehen und Akzeptieren kollidierten und sich bei einem sehr großen Teil der Bevölkerung Abgründe und Gräben, Fragen und Unverständnis auftaten. Zwischen der Exekutive und deren Mitarbeitern in den Hintergrundoffices zu den Sachbearbeitern in den Ämtern, den Beschaffungsbevollmächtigten in den Krankenhäusern, den Ordnungskräften, den Paketboten oder den Lebensmittelfachkräften ist es ein langer Weg, bei dem oft keiner weiß, was der jeweilig andere macht. Funktionierten vor der Krise die Entscheidungs- und Umsetzungsketten nach dem Motto „just in time“ oder „business as usual“ so reibungslos wie möglich, zerstörte die Pandemie mit einem Schlag sämtliche Strukturen. Dem System der sozialen Marktwirtschaft blieb der Atem stocken und geriet an seine Grenzen. Jetzt erst wurde vielen klar, dass dieses System, welches auf der Annahme der Selbstregulierung basierte, durch den globalen Crash der Virendurchseuchung und den globalen Liefer- und Produktionsketten zwangsweise aus den Fugen geraten war. Jede Aussage, dass es eine derartige Gemengelage in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr gegeben habe, war richtig, aber es wäre falsch zu behaupten, dass uns diese katastrophale Entäußerung unserer Lebensumstände wie ein Blitz aus heiterem Himmel erwischt hätte. Zumindest ist eindeutig nachzuweisen, dass derartige Katastrophenszenarien schon seit den letzten Pandemien und Finanzcrashs von Ökonomen, Politologen, Infektionsforschern oder Ethikern als „worst case“ angedacht und vorausgesagt wurden. Selbst die Science Fiction Literatur hatte derartige Szenarien in Büchern und Filmen durchgespielt und auch wenn das menschliche Gedächtnis bisweilen schnell vergisst, spätestens seit HIV, Sars CoVid-1, H1N5, MERS und Ebola hätte man reagieren können und müssen. Es gab genügend Warnhinweise und die Forscher warteten nur auf Unterstützungsgelder, um nach Impfstoffen und Medikamenten zu suchen.

2020 stand der Tod bringende Virus COVID 19, für den es keinen Impfstoff gab, auf keiner Agenda, auf keiner Think-Tank-Liste und fiel selbst als warnender Gedanke jeder inneren Zensurschere zum Opfer. Immer schneller, immer mehr und es hat schon immer alles geklappt, hieß es noch zu Beginn der Coronakrise. Aber all das hat sich in den Wochen danach sehr schnell in Schall und Rauch aufgelöst. Wir waren nicht vorbereitet und dachten, dass das ungebremste Wachstum in unserer Überflussgesellschaft immer so weitergehen würde. „Flaten the curve“ hieß es, als einigermaßen sicher war, was die Pandemie anrichten würde und damit die Kurve der Infizierten so flach wie möglich bleiben würde, verordneten die Regierenden auf Anraten der sie beratenden Wissenschaftler aus dem Fachbereich Virologie die ersten einschränkenden Maßnahmen. Um die Bevölkerung aber nicht all zu sehr zu verängstigen, schienen Kontaktsperren, Abstandswahrungen, Hygieneregeln und Verhaltensempfehlungen zunächst die geeignetsten Mittel der Wahl zu sein, obwohl die Virologen von Anfang an warnten, dass diese Pandemie keine bislang bekannten Regelerkenntnisse einhalten würde, sondern chaotisch mäandernd von einem Virenträger zum nächsten Wirt springen würde. Strikte Quarantäne und Kontaktbeschränkungen, Masken und Händewaschen wären von Anfang an angesagt gewesen und diese einfachen Regeln hätten mindestens 3-5 Wochen eingehalten werden müssen. Eines der wichtigsten Instrumente der Virologie, um die Bevölkerung zu schützen, wären Tests gewesen, aber die fehlten ebenso.
Ich habe mich bis zum 22. Februar in Marseille und an der Ligurischen Küste aufgehalten und sah die ersten Bilder aus Bergamo und Brescia und konnte nicht glauben, was ich sah. Sie sperrten gesamte Ortschaften ab und ein paar Tage später rollten schon die Leichenwagen durch die Lombardei. Bei unserer Rückfahrt durchs Jura übernachteten wir noch vollkommen entspannt in der Nähe von Besançon in einem Bauernhaus, ohne an Corona in Deutschland zu denken. Als wir nach Deutschland kamen und an einer Tankstelle halten mussten, sah ich in dem angeschlossenen Kiosk die Zeitungen mit den fetten Schlagzeilen über den Corona-Ausbruch in China, Südkorea und Europa. Der Massenkarneval hatte sich verabschiedet und die fünfte Jahreszeit zog sich für 9 Monate in eine Wartestellung zurück. Am 22. Februar starben die ersten Lombarden an Covid-19. Nach zwei Wochen sollten in einem Gebiet um Bergamo schon tausend Tote zu beklagen sein. Von nun an war allen klar, dass eine Pandemie über den Globus rollte. 

Ausgerechnet in dem kleinen Ort Gangelt im Kreis Heinsberg unweit der holländischen Grenze fand das Virus reiche Beute, nachdem fast 1000 Menschen bei einem Karnevalsfest gefeiert hatten. Offensichtlich befanden sich mehrere Bürger, die schon vorher infiziert waren, unter den Feiernden. Bis heute gilt Heinsberg seit dem 24. Februar neben Tirschenreuth als das Hotspot der Infektionswelle in Deutschland. Während in der Lombardei die Särge mit Leichen von Militärlastwagen abtransportiert wurden, geschah in Deutschland eigentlich nur Spekulations- und Symbolpolitik. Die Virologen der Charité und des RKI warnten eindringlich vor dem exponentiellen Wachstum der Viren, die eine Erhöhung der Infizierten in kürzester Zeit mit sich bringen würde.
Erst am 13. März griffen die Landesregierungen und die Bundesregierung mit einschränkenden Sanktionen ein. Zu diesem Zeitpunkt offenbarte sich, dass weder genügend Schutzmasken und -kleidung vorhanden war, dass Desinfektionsmittel fehlten und die Krankenhäuser organisatorisch noch nicht genügend vorbereitet waren. Alles, was dann kam, dürfte bekannt sein und heute am 1. Mai sieht es so aus, dass zumindest die Vertreter der Wirtschaft Hand in Hand mit der Politik den damals vollzogenen Lockdown peu a peu aufweichen wollen. Lockerung tönte es aus allen wirtschaftsnahen Medien. Sind sich alle bewusst, dass jederzeit durch größere Kontakte zwischen den Menschen die Infiziertenzahlen sehr schnell größer werden können? Wer weiß, wie viele unerkannte Infizierte noch unter uns weilen? Trotzdem wird mit dem placet von Wirtschaft und Politik der Lockdown geöffnet. Es war der enorme Druck der Wirtschaft, dem sich der Staat und vor allem die Ministerpräsidenten der Länder beugten. Stillstehende Flugzeuge der Lufthansaflotte, die heruntergefahrene Produktion aller Automobilfabriken und Konsumgüterhersteller, die komplette Stilllegung der Gastronomie, 10 Mio. Kurzarbeiter und eine Steigerung der Arbeitslosenzahl um 308.000 reichten aus, um die Vorsichtigen und Warnenden zu überstimmen. Zusätzlich sorgte die Schließung aller Schulen und Universitäten für weiteren Unmut. Alle wussten, dass die Pandemie zwangsläufig in eine lang anhaltende Rezession übergehen würde, wie es von Wirtschaftswissenschaftler prognostiziert worden war. Die alles entscheidende Frage hieß Wirtschafts- und Systemrettung gegen einen möglichen zweiten Ausbruch der Pandemie und noch mehr Toten, um es auf eine kurze Formel zu bringen. Denn alle wussten genau, dass diese Pandemie noch nicht vorbei ist. Die ganze Welt ist betroffen. In den USA zählt man über 1.000.000 Infizierte und fast 70.000 Tote, Die Länder Italien, Frankreich, Spanien und Großbritannien verzeichnen insgesamt mehr als 100.000 Tote. Ökonomie und Marktwirtschaft gegen Ethik und Menschenwürde, zwei Positionen, die  das Leben aller Bürger schon seit Jahrzehnten nachhaltig beschäftigt: Die Klimakrise wird Corona überdauern und das Leben der Menschheit weiterhin bedrohen, wenn wir nichts dagegen unternehmen.
Denn ob Corona oder die Klimakrise, es ist der Mensch, der mit seinen Allmachtsanspruch die Welt über Jahrhunderte zu Grunde gerichtet hat, es ist der Mensch, der die Umwelt vergiftet hat und die Erde ausbeutete. Corona entstand, als Menschen, in diesem Fall im chinesischen Wuhan, die natürliche Umwelt zerstörten, die wild lebenden Tiere töteten oder vertrieben und die eigenen Besiedlungen für Wohnen und Arbeiten so dicht an die Natur drängten, dass das Gleichgewicht zwischen Mensch und Umwelt entscheidend aus den Fugen geriet. Ob die „Verschwörungstheorie“ zu beweisen sein könnte, dass in dem Wuhaner Labor ein kleiner Gau mit einem Leck stattgefunden haben könnte, wird wahrscheinlich unmöglich sein. Tatsache aber ist, dass die seltsame Nähe zwischen dem Laborkomplex und dem Nassmarkt Fragen aufwerfen könnte. Aber auch, wenn das Virus aus dem Labor entwichen ist, was kann das ändern. Rechtlich nach dem Verursacherprinzip in einem autokratisch geführten Staat der Willkür, politisch in der Machtlosigkeit der restlichen Welt und überhaupt, wer kann wissen, wo überall Viren, Gift oder Plutonium und andere kleine Teufel aus Hochsicherheitstrakts schon entkommen sind.  Im Fazit ist das was für geschichtsforscher, der Wirklichkeit bringt sie keinen nachhaltigen Nutzen. Wir wissen aber jetzt, dass alle Coronaviren und überhaupt alle Viren, die in Wirbeltieren leben, sich des Menschen durch zoonotische Übertragung bemächtigen.

Klima, Umwelt, Mensch, Leben, vier Größen, die keine Gleichung ergeben.

„Der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit vom Bernhard-Nocht-Institut für Virologie schätzt, dass es so viele Virenarten gibt, wie man eine 10 mit 31 Nullen hintendran schreibt und weist noch einmal darauf hin, dass viele dieser Viren zoonotisch sind, also Viren sind, die von Wirbeltieren auf Menschen übertragen werden können. Erst nach eingehender empirischer Forschung in den Dschungelgebieten und der daraus folgernden jahrelangen Laborforschung mit vielen Experimenten kann man Antworten auf die Fragen finden, wie sich die Viren auf den Organismus des Menschen auswirken und was eventuell dagegen zu machen ist. Allein bei Säugetieren sollen 300.000 unterschiedliche Virenarten gefunden worden sein, was die Frage aufwirft, wie jedes einzelne Virus später zu identifizieren ist.“ (Nacherzählt aus der sz – 3+ vom 26. April 2020)

Fundstücke

Jeremy Farrar ist der Director des „Wellcome Trust“, einer Hilfsorganisation, die sich zur Aufgabe gemacht hat, mit außergewöhnlichen Maßnahmen die gesundheitsfürsorge weltweit zu fördern. 

Jeremy Farrar: Eine Reproduktionsrate von knapp unter eins ist nicht niedrig genug. Denn dann braucht es nur einen Funken oder einen kurzzeitigen Zusammenbruch der Test-Infrastruktur und der Wert steigt wieder deutlich über eins, auf 1,3 oder 1,5 und die Kurve wird wieder exponentiell. Die einzige Antwort darauf: ein erneuter Lockdown.

Wir müssen den Menschen sehr klar machen, dass sie bei leichten Symptomen zu Hause bleiben – und bei Fieber, Muskelschmerzen, Kopfschmerzen sowieso. Und während wir all das machen, müssen wir nach echten Auswegen suchen.

Viele Kliniken berichten, dass sich weniger Menschen mit Brustschmerzen vorstellen. Das ist ein schlechtes Zeichen, denn es kann sein, dass diese Menschen Herzinfarkte verschleppen. Und natürlich hat der Lockdown einen verwüstenden Effekt auf die Wirtschaft, was wiederum einen starken Effekt auf die Gesundheit haben wird.

Ich glaube, dass es Vorschriften brauchte. Trotzdem ist es großartig, dass das Verhalten der Menschen die epidemiologischen Kurven so stark verändert hat. Und es passt dazu, was uns die Geschichte lehrt. Der berühmte Epidemiologe John Snow identifizierte im 19. Jahrhundert eine kontaminierte Wasserpumpe, die für einen Cholera-Ausbruch in London verantwortlich war. Aber als Snow das herausfand, hatten die Menschen schon begonnen, das Wasser der Pumpe zu meiden. Sie hatten vor Snow gemerkt, dass mit der Pumpe etwas nicht stimmte.

LMD (le monde diplomatique) 

1980 gab es in Italien für „schwere Fälle“ 922 Betten pro 100.000 Einwohner. 30 Jahre später waren es nur noch 275. Überall galt nur eine Devise: Kosten senken. Das Krankenhaus sollte wie eine Autofabrik im Just-in-time-Modus funktionieren.

Denn die Corona-Epidemie führt allen vor Augen, dass unsere Wirtschaftsorganisation noch weit absurder ist, als man vermutet hatte: Während die Airlines ihre leeren Flugzeuge fliegen ließen, um ihre Slots zu behalten, erklärte ein Virologe, wie neoliberale Politik die Grundlagenforschung über das Coronavirus behindert hat.

Offenbar muss man manchmal die Normalität verlassen, um zu begreifen, wie unnormal sie ist. Marshall Burke, Dozent am Zentrum für Ernährungssicherheit und Umwelt der Universität Stanford, twitterte dazu folgendes Paradox: „Die Reduktion der Luftverschmutzung aufgrund von Covid-19 in China hat vermutlich zwanzig Mal so viele Leben gerettet, wie durch den Virus bisher verloren gingen. Das heißt nicht, dass Pandemien gut sind, aber es zeigt, wie gesundheitsschädlich unsere Wirtschaftssysteme sind, auch ohne Coronavirus.“

Bei vielen Politikwissenschaftlern, Soziologen, Wirtschaftswissenschaftlern, Klimaforschern, Gesundheitsexperten und vor allem bei Gewerkschaftlern und Sozialverbänden sind Solidarität, Klimakampf und neue soziale Transformationen Konsens und galent schon vor der Corona-Pandemie als Blaupause für die Zukunft. Corona zeigt uns allen, wie und warum das System der modernen Demokratie dringend auf den Prüfstand gestellt werden muss und es zeigt uns auch, dass die Globalisierung ein wichtiger und unabdingbarer Fortschritt für die Menschheit sein kann, aber dass durch die Arbeitsteilung der Produktionsformen, dem monokulturellen Agrarwesen wie dem zersplitterten und unkontrollierbaren Finanzhandel auch diese „marktkonforme Demokratie“ des grenzenlosen Wachstums zur brüchigen Blase verkommen ist. Die aktuelle Vernetzung der globalisierten Produktionsformen führte zu fatalen Abhängigkeiten, die in der Krise die Vulnerabilität der neuen Weltordnung entlarvte.
Die Klimakrise hat schon 2000 gezeigt, was die Bedrohung der Seuche heute anrichtet. Allein die Abhängigkeit von medizinischer Grundvorsorgeprodukten, die irgendwo in China und Indien hergestellt werden, hat dem deutschen und europäischen Gesundheitswesen enorm geschadet wie die Tatsache, dass zu wenig Schutzmasken, Handschuhe, Kittel und Beatmungsgeräte präventiv bei uns für den Notfall gelagert wurden. Zudem haben fast alle europäischen Länder (von den USA zu schweigen) durch eine profitorientierte, neoliberale Austeritätspolitik Menschenleben in Gefahr gebracht. Italien + Spanien können ein Trauerlied darob singen. Was die mit einem Mal so hochgeschätzten systemrelevanten Berufe betrifft, so werden wir sehen, ob die Solidarität der Klattens, Albrechts, Schwarz und Co. auch während der Corona-Not funktioniert. Wer heute als Held gefeiert wird, kann schon übermorgen wieder nur ein kleines Rad im Räderwerk der Produktion sein. Wie man mit Helden umgehen kann, wissen wir auch aus der Geschichte.

Der Lockdown, so brutal und unerhört er war, war vergleichsweise einfach zu bewerkstelligen. Viel schwerer wird die Lockerung.

„Auch die Wissenschaftler sagen: Die Politik muss entscheiden, wir können nur fachlichen Rat geben. Und es gibt eben nie eine absolut richtige Entscheidung. Es gibt nur die vernünftige Erörterung aller Gesichtspunkte, eingeschlossen die wissenschaftlichen Erkenntnisse, und dann muss entschieden werden.“

Es ist noch nicht so lange her, 2003, dass ein Bundestagsabgeordneter öffentlich die Meinung vertrat: „Ich halte nichts davon, wenn 85-Jährige noch künstliche Hüftgelenke auf Kosten der Solidargemeinschaft bekommen.“ Das Problem, das er ansprach, lag aber an einem Gesundheitssystem, welches einerseits sparte, bis es quietschte und andererseits gerade bei vielen Operationen eine Maßlosigkeit der Gewinnmaximierung pflegte. Die auf Profit getrimmten Krankenhäuser und viele niedergelassene Ärzte verhielten sich in diesem Bereich unethisch und kannten in den Behandlungsformen keine Grenzen mehr. Allein die Zumutung für die alten Menschen, Risikoabwägung gegen den erhofften Gewinn auszuspielen, war unverhältnismäßig. Deutschland war ohnehin Weltmeister der künstlichen Hüften, künstlichen Knie und alles, was sich die medizinische Ersatzteilmedizin ausgedachte hatte. Der genannte Parlamentarier, der noch relativ jung war, als er diese Aussage traf, betrat eine Zone der Gesellschaft, die eine rote Linie zwischen Ethik und Utilisation markierte und verletzte das Grundgesetz gleich doppelt. Zum einem spielte er Alt und Jung gegeneinander aus, indem er das Leben des Menschen offensichtlich an dessen ökonomischer Nützlichkeit maß und zum anderen missachtete er, dass die Würde des Menschen unantastbar war wie die Bewahrung des Lebens. Eine Gesellschaft wie die unsrige wird auch daran gemessen, wie sie mit den Schwächsten umgeht.
In dieser Hinsicht müssen wir die aktuellen Äußerungen des Bundestagspräsidenten Schäuble einbeziehen, der im Tagespiegel folgendes verlautbaren ließ:
„Der Staat muss für alle die bestmögliche gesundheitliche Versorgung gewährleisten. Aber Menschen werden weiter auch an Corona sterben. Sehen Sie: Mit allen Vorbelastungen und bei meinem Alter bin ich Hochrisikogruppe. Meine Angst ist aber begrenzt. Wir sterben alle. Und ich finde, Jüngere haben eigentlich ein viel größeres Risiko als ich. Mein natürliches Lebensende ist nämlich ein bisschen näher.“

Auch wenn viele Politiker und Journalisten das gesamte Interview mit allen Aussagen Schäubles, das den jetzt überall zitierten Satz als marginales Teilstück einzuordnen versucht, wird  genau diese Äußerung als fest zementierte Wirkung im Raum der Erinnerung stehen bleiben. Bei der Lektüre derartiger Interviews taucht oft der Eindruck auf, dass die Gesamtaussage nur als Rahmen für die Zuspitzung herhalten sollte. Schäuble weiß genau, wie polarisierend dieser Satz war und in der aktuellen Situation dräute der Verdacht, da soll was angestoßen werden. 

Schäuble fiel schon einmal bei einer wichtigen Abstimmung im Bundestag mit einer eigentümlichen Haltung zum Paragraph 218 auf. Das war 1992, also kurz nach der einseitig durchgeführten Wiedervereinigung: Der Spiegel vom 26.09.1992 kommentierte:

Mit Schäuble trieb Kohl die Mehrheit seiner Kollegen hinter den Entwurf einer Indikationsregelung, die nicht nur die fortgeltende Fristenregelung in der ehemaligen DDR beseitigt, sondern auch das in den alten Bundesländern praktizierte Indikationenmodell verschärft hätte. Bei ihrer Gewissenserforschung, forderte der Machtmensch auf dem Kanzlerstuhl letzte Woche zum wiederholten Mal, sollten die Abgeordneten auch die „Einheit der Partei“ bedenken.

Der CDU/CSU-Entwurf scheiterte in der Schlussabstimmung, erwartungsgemäß. Der Gesetzesantrag von SPD und FDP für eine Fristenlösung mit Beratungspflicht kam mit 357 Stimmen der 662 Parlamentarier durch, unterstützt von 32 Unions-Abgeordneten, einem Zehntel der Christenfraktion.

Boris Palmer, der ohnehin das Polarisieren als Lebenselexier zu betrachten scheint, haut dann noch fester in die Kerbe:

Boris Palmer: „Wenn Sie die Todeszahlen durch Corona anschauen, dann ist es bei vielen so, dass viele Menschen über 80 sterben – und wir wissen, über 80 sterben die meisten irgendwann“,

„Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“.

Es entsteht der Eindruck, dass viele aus den Reihen von Politik und Öffentlichkeit nach den 6 Wochen Lockdown nichts anderes denken und predigen, als so schnell wie möglich in die alten Zustände vor Corona zurückzukehren. Ich kann nur hoffen, dass diese Meinungsmacher und selbst ernannten Querdenker in eine ethische und moralische Debatte geraten, die alle, die den Wert des Lebens und die Würde des Menschen als Grundlage für eine gerechte und freiheitliche Gesellschaftsordnung halten, von allen, denen die Grundsätze der Demokratie noch einen festen Wert bedeuten, dieses populistische und gefährliche Geplapper in die Schranken weisen. Tatsächlich denken aber viele Menschen klammheimlich wie Palmer und alle diejenigen die den Nutzen für den Wohlstand der Gesellschaft mit seiner Wachstumsideologie eher verteidigen würden als das Grundgesetz und alle Forderungen, die in der Aufklärung als Grundlagen für das Zusammenleben der Menschen in der Neuzeit erkämpft wurden.

Erinnert man sich noch an Rede des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger zum 50. Jahrestag der Novemberprogrome 1938 während des NS-Regimes? Man sollte sich erinnern, denn danach war Jenninger seinen Job los: „Hatten sie sich nicht in der Vergangenheit doch eine Rolle angemaßt, die ihnen nicht zukam? Mussten sie nicht endlich einmal Einschränkungen in Kauf nehmen? Hatten sie es nicht vielleicht sogar verdient, in ihre Schranken verwiesen zu werden?“

Sind wir inzwischen wieder soweit uns jeglichen Wortmüll der Politiker gefallen zu lassen? Daran sollte sich auch der aktuelle Bundestagspräsident halten und vor allem alle diejenigen, die ins gleiche Horn blasen und abseits im rechten Spektrum stehen und darauf warten, die Demokratie auseinanderzunehmen.

 Sehr schnell aber wurde deutlich, dass auch in der Krise vor allem das Geld den Unterschied macht. Auf der einen Seite machen es sich die Gutbetuchten in ihren Villen mit dem Homeoffice-Laptop neben der Saune, dem Fitnessraum und dem Pool gemütlich und auf der anderen Seite sind die bislang Unsichtbaren des Alltags, Pfleger, Reinigungskräfte, Kassiererinnen im Supermarkt und Lieferanten, einem Risiko ausgesetzt, das den meisten Begüterten erspart bleibt. Man zieht sich in eine Selbstisolation der Komfortbehausungen zurück und wartet ab, bis man wieder draußen mitmischen kann, ohne drinnen das Mitmischen aufzugeben. Das alles geschieht, während Eltern im Homeoffice ihrer kleinen Wohnung sitzen und versuchen über die Runden zu kommen, während das Geschrei der Kinder durch die kleinen Räume schallt. Wohnungslose die schutzlos jedem Angriff gleich welcher Art ausgeliefert sind, würden gern in einem Zuhause leben, um zu überleben.

Vertrauen ist der Anfang von allem: Deutsche Bank

„Vertrauen ist der Anfang von allem.“ So hat vor einigen Jahren eine große deutsche Bank für sich geworben. Auf den ersten Blick sehr einladend: Mach dir weiter keine Gedanken, sondern vertrau uns dein Geld an, wir kümmern uns um den Rest. Das hört man doch gerne. Das Problem: Auch Banken müssen von etwas leben und das einzige, womit sie wirklich Geld verdienen können, das ist das Geld anderer Leute – also beispielsweise mein Geld. Mit dem Vertrauen ist das schon so eine Sache. Ich komme immer wieder in Situationen, in denen ich Entscheidungen treffen muss, die gravierend meinen Lebensrhythmus und meine Existenz betreffen. Und dann stehe ich regelmäßig vor der Frage: Wem vertraue ich eigentlich? Dieser Slogan der Deutschen Bank ist zynisch, denn gerade die Deutsche Bank ist in viele unethische und ökologisch destruktive Transaktionen verstrickt und hat sich in den letzten Jahren für den deutschen Verbraucher nicht als vertrauensvoll gezeigt.

Elisabeth Raether, Mark Schieritz und Bernd Ulrich  ZEIT vom 1. Mai

„Diese Krise macht deutlich, dass der Kapitalismus ohne den Konsum nicht überleben kann. Da haben die Läden gerade einmal für ein paar Wochen geschlossen und schon muss der Staat ein Rettungspaket in Höhe von fast eineinhalb Billionen Euro auf den Weg bringen, um den Systemabsturz zu verhindern. Und das nächste ist bereits in Vorbereitung.“

Ohne Kauflust kein Wachstum und keine Kaufkraft. Unser Wohlstand wird an der Ladentheke verteidigt. Das wahre Schlachtfeld des Kapitalismus ist die Psyche des potentiellen Kunden, von seiner und von ihrer Stimmung hängt alles ab.

Die gesamte Krisenrettungspolitik ist darauf angelegt, dass die Wirtschaft die Produktion wieder hochfährt, schon wegen der vielen neuen Schulden, die in diesen Wochen aufgetürmt werden und die bedient werden wollen. Da ist es ein Problem, wenn die Wirtschaft nicht mehr richtig wächst und das Steuergeld auch nicht.

Die Finanzkrise von 2008 hat das Land vor allem deswegen vergleichsweise milde getroffen, weil die Deutschen weiter shoppen gingen – beziehungsweise die Chinesen, die Amerikaner, die Italiener und die Franzosen. Deutschland ist eine Exportnation, und das bedeutet: Auch andere müssen für uns konsumieren.

Die privaten Konsumausgaben in Deutschland beliefen sich zuletzt auf 1.744 Milliarden Euro im Jahr. Wenn sie nur um 20 Prozent zurück gehen, dann fehlen gut 350 Milliarden Euro. Das entspricht ziemlich genau dem Volumen des gesamten jährlichen Bundeshaushalts.

Wachstum – das merken wir nun, da es dauerhaft infrage steht – war die globale Zivilreligion, war das, was in China wie in Brasilien, in den USA wie in Bangladesch stets vor der Klammer und außerhalb jeder ernsthaften Debatte stand. Die Folgen der Säkularisierung dieser Religion dürften gewaltig sein, die Welt müsste sich neu erfinden, man bräuchte gewissermaßen eine Art globale Generalversammlung vor der Klammer.

Nein, der globale Kapitalismus hat sich an sich selbst verschluckt. Fast schade.

Slavoj Zizek in der NZZ

Viren sind nicht die Lebensform, aus der höher entwickelte Formen hervorgegangen sind; sie sind reine Parasiten und pflanzen sich fort, indem sie höher entwickelte Organismen infizieren (wenn wir durch ein Virus infiziert werden, dienen wir einfach als Kopiereinrichtung). In diesem Zusammenfallen der Gegensätze – elementar und parasitär – liegt das Mysterium der Viren begründet: Sie sind ein Fall für das, was für Schelling «der nie aufhebbare Rest» ist; ein Rest niedrigster Lebensform, der als Produkt einer Fehlfunktion höherer Vermehrungsmechanismen in Erscheinung tritt und sie weiterhin heimsucht (infiziert), ein Rest, der niemals wieder in das untergeordnete Moment einer höheren Ebene des Lebens integriert werden kann.

Hier treffen wir auf das, was Hegel als spekulatives Urteil bezeichnet – die Identität des Höchsten und des Niedrigsten. Hegels bekanntestes Beispiel ist «Der Geist ist ein Knochen» aus seiner Analyse der Phrenologie in der «Phänomenologie des Geistes», und unser Beispiel sollte lauten «Der Geist ist ein Virus» – ist der menschliche Geist nicht auch eine Art Virus, das als Parasit im Menschentier lebt, es für die eigene Fortpflanzung ausbeutet und manchmal droht, es zu vernichten? Und soweit das Medium des Geistes die Sprache ist, sollten wir nicht vergessen, dass Sprache auf ihrer elementarsten Ebene auch etwas Mechanisches ist, eine Angelegenheit von Regeln, die wir zu lernen und zu befolgen haben.

Der britische Evolutionsbiologe Richard Dawkins behauptet, Memes seien «Viren des Geistes», parasitäre Wesen, welche die Macht des Menschen kolonisieren und sie als Mittel zur eigenen Vermehrung nutzen. Und Daniel Dennett schreibt: «Eine Person ist ein Hominide mit einem infizierten Gehirn, dem Wirt für Millionen kultureller Symbionten. Deren wichtigste Wegbereiter sind die als Sprache bekannten symbiotischen Systeme.» Doch war es niemand anderer als Leo Tolstoi, der diese Idee als Erster vorbrachte. 

Die Grundkategorie von Tolstois Anthropologie ist die Infektion. Er sieht das menschliche Wesen als ein passives leeres Medium, das von affektbeladenen kulturellen Elementen infiziert ist, die wie ansteckende Bazillen sich von einem Individuum zum anderen ausbreiten. Und Tolstoi geht hier bis ans Ende: Dieser Ausbreitung affektiver Infektionen setzt er keine echte geistige Autonomie entgegen; er schlägt keine heroische Vision einer Selbsterziehung zu einem autonomen ethischen Subjekt vor, das sich zu diesem Zweck der ansteckenden Bazillen entledigt. Es gibt allein den Kampf zwischen guten und schlechten Infektionen: das Christentum selbst ist eine Infektion, wenn auch – für Tolstoi – eine gute.

Die verstörendste Lektion, die die anhaltende Virus-Epidemie für uns bereithält: Der Mensch ist viel weniger souverän, als er denkt. Er trägt weiter, was ihm zugetragen wird. Er spricht und weiß nicht, was er sagt. Er taucht auf – und irgendwann verschwindet er wieder von der Erdoberfläche. Das muss er aushalten können, ohne verrückt zu werden.

Contagion Film von Stven Soderbergh 2011, der die Pandemie fast 1 : 1 thematisisert:

Irgendwo auf dieser Welt ist das falsche Schwein auf die falsche Fledermaus getroffen

W.N. Köln, 3. Mai 2020

Überarbeitet W. Neisser 22.8.2021