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Antonio Presti und das Skulpturengebiet Fiumara d´arte

Auf der Suche nach zeitgenössischer Kunst in Sizilien sind wir tagelang durch Westsizilien gefahren und haben die Orte aufgespürt, die in den einschlägigen Reiseführern oder Presseberichten erwähnt und meistens über alle Maßen gelobt werden. Reiseführern kann man ohnehin nur bedingt trauen, weil wir in unserer langjährigen Erfahrung den Eindruck gewonnen haben, dass bei vielen Sehenswürdigkeiten die Schreibenden entweder nicht vor Ort waren oder aber Berichte anderer Reiseführer in abgewandelter Form kopiert haben.
Wenn ein Besucher aus Deutschland oder anderen Ländern des Nordens auf der Suche nach „arte contemporanea“ nach Sizilien unterwegs ist, kann er sich oft nicht vorstellen, dass fast das gesamte süditalienische Gebiet südlich Neapels und Sizilien kaum nennenswerte Museen oder Kunstorte mit zeitgenössischen Objekten, Bildern, Skulpturen oder indirekten Einflüssen vorzuweisen haben. Neben dem überall sichtbaren Reichtum an klassischen oder historischen Kunstwerken oder archäologischen Funden bildet die zeitgenössische Kunst eine ausgedünnte Diaspora in Italien ab. (Auch wenn beispielsweise der Futurismus und die arte povera die italienische Kunst im 20. Jahrhundert berühmt gemacht haben). Schon auf der Biennale 2011 in Venedig sorgte die Aussage des Kurators des italienischen Pavillons Vittorio Sgarbi, Italien habe von jeher viel mehr große Künstler hervorgebracht als jede andere Nation der Welt, für befremdliches Raunen in der Kunstszene. In dem Jahr war der italienische Pavillon laut der Kritikerin der New York Times „unredeemable still-born schlock“  – von „heillosem, totgeborenen Ramsch“ vollgepropft. Wir haben es gesehen und ich schwankte zwischen lautem Lachen und entsetzlichen Schimpfkanonaden. Sgarbi, ein naher Vertrauter von Berlusconi, schoß der italienischen Kulturszene damit ein krachendes Eigentor. Wer die Hotspots oder Highlights der zeitgenössischen Kunst in Italien aufzählt, braucht kein phänomenales Gedächtnis, um eine gewisse Kennerschaft zeigen zu können. 

In diesem Zusammenhang und in der Erwartung, doch einige Projekte aufzuspüren, haben wir neben Gibellina, Favara auch das Kunstprojekt Fiumara d´Arte von Tusa und Umgebung aufgesucht, wobei wir zugeben müssen, dass wir den gesamten südlichen und östlichen Raum Siziliens, also Catania, Syrakusa oder Messina aus Zeitgründen auslassen mussten. 

Antonio Presti, Erbe eines angesehenen Bauunternehmens, rief 1982 sein eigenes Kunstprojekt ins Leben und kämpfte fortan für die permanente Erweiterung der in der Landschaft stehenden Kunstwerke in und um Tusa und dem südlich verlaufenden, vom Nebrodi-Gebirge eingeschlossenen Flusstal des Fiumare. Trotz der vielen bürokratische Hürden und Einschränkungen, wie auch Behördenwillkür und mafiösen Infiltrationen blieb er standhaft und nahm sogar Inhaftierungen in Kauf, um seine Vision durchzusetzen. Das Städtchen Tusa, liegt  etwa 20 km ostwärts von Cefalu. Die rauhe Gegend zeigt sich in der typisch sizilianischen Vielfalt zwischen steinigen Berghängen von Maquis bewachsen und üppiger Vegetation der enormen Pflanzenvielfalt, die man in Sizilien finden kann. Die einzelnen Dörfer sind nur über sehr schmale, kurvenreiche Straßen zu erreichen und die Skulpturen, die nach und nach in die Landschaft gestellt wurden, können oft erst nach mühsamer Suche gefunden werden. Da hilft auch kein Navi, man muss ständig die Augen offen halten und Schlaglöcher wie Buckelpisten in Kauf nehmen.

Antonio Presti sammelte schon in jungen Jahren zeitgenössische Kunst und knüpfte nach dem Tod seines Vaters mit einigen bekannten italienischen Künstlern wie Bildhauern Kontakte, die seinen Ideen zukünftig Leben einhauchten. Presti entdeckte den Maler Tano Festa und besuchte ihn in seinem Atelier in Rom. Dort entdeckte er laut Eigendarstellung den Entwurf „Monumento per un poeta morto“ (Denkmal für einen verstorbenen Dichter). Sein Wunsch, das Werk in monumentaler Größe auf die Strandpromenade von Villa Margi zu präsentieren, erfüllte sich einige Jahre später. Tano Festa´s Monumentalskulptur, ein quadratischer, blauer Betonrahmen wird von den Bewohnern der Region „Finestra sul mare“ (Fenster zum Meer) genannt und erlebte seine Einweihung am 24. Juni 1989, ein Jahr nach dem Tod des Künstlers. Der nun beginnende und lange währende Bürokratiekrieg zwischen Presti und den Behörden wie dem sizilianischen Justizapparat kann man detailliert auf der website http://www.ateliersulmare.com/de/fiumara-de/storia_fiumara_de.html nachlesen. Dabei spielt die Mafia, wie überall auf der Insel in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine nicht ganz unwichtige Rolle.

Wir besuchten zunächst das Kunsthotel „ateliersulmare museoalbergo“ und ließen uns bei einer Führung die einzelnen Zimmer zeigen. Etliche dieser sogenannten Kunsthotels entstanden in den letzten Jahrzehnten überall in Europa und es obliegt immer der individuellen Beurteilung des Gastes, wie er die Ästehtik eines solchen Ortes einordnet. Ich habe den für meine Begriffe konzeptlosen und geschmäcklerischen Gestaltungsrealisierungen nicht viel abgewinnen können, weil  ich zu oft ähnliche oder viel besser gestaltete Gebäude bzw. Räume gesehen habe. Allerdings muss ich Presti zugestehen, dass er zumindest den bestimmt nicht einfachen Versuch unternommen hat, eine künstlerisch gestaltete Innenarchitektur zu schaffen, die einerseits Unikate sind und andrerseits in ihrer Formen- und Farbenvielfalt sehr dekorativ und anrührend wirken können, da sie handwerklich und qualitativ mit professioneller Energie realisiert wurden und zumindest neue Perspektiven der Hotel- oder Beherbungskultur zeigen. Im Gegensatz zu vielen zeitgenössischen Installationen oder Skulpturen, die man auf jeder Biennale oder den entsprechenden Kunstmessen finden kann, hat der Besucher nicht die leidige Qual, die kryptisch ausgedachten Zusammenhänge mühsam verstehen zu lernen und sich am Ende doch allein gelassen zu fühlen. Kunst muss nicht unbedingt, wie es inzwischen im aktuellen Kunstgeschehen gang und gäbe ist, alle Verwerfungen, Kriege, Ausbeutungen, Ungerechtigkeiten und deren Kollateralschäden dieser Welt darstellen und so tun, als könne die Kunst etwas daran ändern. Kunst darf aber auch nicht wegsehen und jeder, der sich mit Kunst beschäftigt, wird irgendwann auf den Punkt kommen, dass Kunst per se politisch ist. Gerade in der zeitgenössischen Kunst, nicht zuletzt wegen der Vereinnahmung eines gefrässigen Finanzmarktes, der mit Hilfe von Kritikern, Galeristen und Sammlern ein zerstörerisches Gift in die Arbeit der Künstler gespritzt hat, sehen wir heute eine Inflation des Beliebigen bis Schlechten. Dank eines ausgeklügelten Lobbyismus wird scheinbar Außergewöhnliches viel schneller zur hohen Kunst erklärt, als das farbenprächtige und in sich stimmige informelle Bild oder die ästhetisch und handwerklich gelungene Skulptur aus Stahl, Holz oder Stein. Eher wird ein künstlich geordneter Müllhaufen zur Kunst erklärt als die formschöne Schnitzerei eines unbekannten Künstlers, der seine Kunst auf der höchsten Qualitätsstufe realisiert. Hanno Rauterberg, der renommierte Kunstkritiker der ZEIT schrieb schon im Jahre 2004: „Weshalb die schockierende Kunst oft positiv bewertet wird und das Milde und Unpolitische so selten Anerkennung findet. Was eigentlich ist verkehrt an „Wohnzimmerkunst“, um nur eins der beliebten Schmähwörter zu nennen? Spricht es nicht für ein Bild, wenn wir es in unseren Alltag hineinnehmen?“

In Tusa hatten wir uns vorgenommen, die Skulpturen, die vereinzelt im Fiumaretal platziert worden waren, zu sehen und uns einen Eindruck davon zu verschaffen. Entlang und parallel der Küste führt die Autobahn nach Messina und diese Betonpiste ist geradezu abenteuerlich wie ein außerirdisches Schlangenwesen in die Landschaft geklemmt worden. Auf Tunnel folgen hohe Brücken und gerade bei Cefalu wechselt sich diese staatlich verordnete „Landart“ des Fortschritts über 30 km in Brücke, Tunnel, Brücke ab. Unter einer dieser Brücken entdeckten wir die erste Skulptur von Consacra, ein ca. 18 Meter hohes, schmales Betonrelief, Kurven und ausgesparte Freiräume, vegetativ in sich verschlungen. Das Objekt ist von der einen Seite in Dunklegrau und von der anderen in Weiß gehalten. Derartige Skulpturen in anderer oder differenzierter Gestaltung sahen wir schon in Gibellina und auch in Palermo. Ähnliches von anderen Bildhauern findet man überall in Europa, entweder aus Stahl oder Holz oder aus Beton oder zusammengeschweißten Schrottl.
Nachdem wir das zweite Objekt auf der Lagekarte gar nicht finden konnten, sind wir weiter gefahren, um die Welle zu suchen. Die „Energia mediterranea.“ Eine blaue, flach gewölbte Betonplatte, die auf einem Plateau in luftiger Höhe auf einem Berggipfel installiert wurde. Unter der Wölbung der Welle lagen eine Menge blau angemalter runder Steine. Ja, ja.

Das Wetter war inzwischen schlechter geworden, Nebel und Wolken zogen immer tiefer, dass es mich viel Mühe kostete, beim Fotografieren eine perfekte Belichtung zu finden, die für eine eventuelle Reproduktion geeignet sein könnte. Der nächste Wegweiser führte uns danach zur Cortenstahlskulptur „Piramide 38° parallelo“, die auch auf der Spitze eines der vielen Berge im Fels verankert war. Die Pyramide war durch eine lange Stahlröhre offensichtlich begehbar, was aber offensichtlich nicht mehr möglich war. Der Clou: Am 21. Juni, wenn es Sommer wird, soll ein Sonnenstrahl das Innere der Pyramide aufhellen.
Wir fuhren wieder bergab und kamen ans Meer, wo der schon genannte quadratische Betonrahmen „Monument für einen toten Poeten“ stand. Der Rahmen war blau eingefärbt und an einigen Stellen sah man aufgemalte weiße Wölkchen. Vielleicht der Hinweis auf ein Clin d´Oeil? Ich schaute hindurch und sah das Meer. Die Skulptur erinnerte mich an das Logo der „Deutschen Bank“, nur dass der diagonale Balken in der Mitte aus dem Rahmen gefallen sein musste.
Es wurde schon spät und bevor wir die anderen Skulpturen entdeckt hätten, wäre es Nacht geworden. Wir fuhren wieder zurück in Richtung Cefalu und Palermo und entdeckten in der Nähe von Trabia ein Restaurant, welches unmittelbar am Wasser gelegen war und dessen Personal uns mit sehr guten Fischgerichten verwöhnte. Das Abendrot kam wie bestellt und zumindest war die exquisite Profanität des Lokals am Ende des Tages, das schönste Erlebnis für uns. Sehr angenehm fanden wir, dass dieses Lokal in keinem uns bekannten Reiseführer zu finden war.

In der Beschreibung der Skulpturen, die wir gesucht und gefunden haben, habe ich bewusst keine detaillierten ästhetischen Angaben zur Ästhetik, zum Inhalt und zur möglichen Konzeption der betreffenden Künstler abgegeben, weil es mir nur um die Idee als solche ging. Die Anordnung und auch die Lage der einzelnen Objekte waren nicht ideal gewählt und mir schien, dass eine gewisse Konzeptlosigkeit zu erkennen überhand genommen hatte. Sicherlich muss dieser Umstand den Gegebenheiten zur Zeit der Realisierung geschuldet worden sein.
Gut installierte Skulpturen mitten in der Landschaft beurteile ich nur dann als gelungen, wenn Objekt und Umwelt eine Einheit bilden oder so konträr zueinander stehen, dass wiederum ein neuer Spannungsbogen entstanden ist. In diesem Zusammenhang verweise ich auf den Skulpturengarten Leku mit den Chillida-Plastiken bei San Sebastian, auf den Kröller-Müller Park bei Arnheim, den Daniel-Spoerri-Park in der Toscana nahe Volterra und auch auf die Insel Hombroich und die Raketenstation bei Neuss. All diesen „Freiluft-Kunstausstellungen“ ist eines gemeinsam: die sorgfältige Planung und Ausführung, die stimmige Auswahl der Objekte oder Bauten und eine kohärente Kuratierung.
In diesem Zusammenhang verweise ich auf einen ganz anderen Aspekt, wie Öffentlicher Raum zu einer Augenweide werden kann: Italienische, französische oder portugiesische Friedhöfe, allen voran San Michele, die Toteninsel bei Venedig, der Cimeterio XXXX in Lissabon, aber ebenso der Stahnsdorfer Friedhof im Süden Berlins, der bis 1989 „terra inkognita“ war, weil dort die Grenze verlief. Heute sieht man eine geordnete Wildnis, wo einst Niemandsland war, mit grau-grünen Steinmonumenten, die über die vielen Jahre einander gefunden zu haben scheinen.