Nach vier Wochen morgendlichen Einkaufens, Croissants und Pane, ließ sich der füllige bis adipöse Bäcker herab, mich anzulächeln, wenn man leicht hochgezogene Mundwinkel als Lächeln bezeichnen kann. Er wünschte mir einen schönen Tag auf italienisch, nicht parlamentarisch, damit ich es auch verstehen konnte. Immerhin grüßte mich einer der Obst – und Gemüsehändler vom Ballaró schon nach dreimaligen Einkauf mit einem durch die Zähne gequetschten „Buon Giorno“ und einer der zahlreichen Fischverkäufer lachte mich heute an, als ich zum wiederholten Male Calamari kaufte, obwohl er sich eine Woche zuvor erst nach gutem Zureden anschickte, mir die Tintenfische zu putzen und in Ringe zu schneiden. Erst als ich standhaft und auch schon leicht angesäuert darauf beharrte, zückte er sein Messer und bearbeitete die leckeren Meerestiere so fachgerecht, dass ich ein schönes Abendessen zubereiten konnte.
Überhaupt der Ballaró, fast täglich war ich da und ich wusste genau, dass mich diejenigen, bei denen ich zu kaufen pflegte, immer wiedererkannten, aber sie schauten einen nur an wie die tausend anderen Touristen, die tagtäglich im Freizeitdress, in den Haaren steckenden Sonnenbrillen und Strohhüten über die buntesten, lautesten und überlaufensten Marktstraßen von Palermo schlenderten und staunend die Fülle und Pracht aus den Ernten von Land und Meer bewunderten – oder einfach nur als weiteres pittoresk exotisch anmutendes Erlebnis abhakten. Bei manchen Händlern hattes keinen Zweck nachdrücklich zu insistieren, um wahrgenommen zu werden, auch wenn man völlig allein vor ihnen stand. Sie schauten mit leichter Kopfdrehung in eine andere Richtung oder unterhielten sich untereinander, so dass ich den Eindruck gewann, als ob sie gar nicht die Absicht hätten, irgendetwas verkaufen wollten.
Selbst wer als Deutscher gut italienisch versteht und sprechen kann, kriegt nur die Hälfte von dem mit, was sich die Händler gegenseitig zurufen, wie sie sich anmachen oder frotzeln und wie sie den arroganten Kunden sprachlich über die Klinge springen lassen. Sizilianisch ist ein Dialekt, der wahrscheinlich für bestimmte Norditaliener gar nicht in den Kanon der offiziellen Sprachregelung passt, auch wenn alle genau wussten, dass ganz Italien auf ländlicher Ebene und in den alten Quartieren der Städte die unterschiedlichsten Dialekte durch die Straßen und Gassen hallten.
Italiens Geschichte war eine einzige Rumpelkammer mit staunenswerten Schätzen, bröckelnden Palazzi, Analphabetismus und kitschigen Heiligenbildchen. Erst nach dem Risorgimento 1865 machte sich die unterschiedlichsten adligen Gutsbesitzer, korrupten Politiker, romantischen Anarchisten, verpeilten Traditionalisten oder kämpferischen Gewerkschaftlern Gedanken, wie eine offizielle Sprachregelung gefunden werden könnte, damit das neue Italien zumindest durch eine einheitliche Kommunikationsform verbunden wurde. Der Piemonteser verstand den Apulier nicht und der Römer schaute nur verwirrt, wenn der Palermitaner zu sprechen begann. Die Napolitaner und die Milanesen, die Venezianer und die Kalabresen konnten sich zum einem nicht riechen und zum anderen nur rudimentär verstanden. Irgendjemand sorgte im Wirrwarr der vielen unterschiedlichen Zungenschläge dann dafür, dass das Florentinische für alle zur geltenden Amts- und Konversationssprache bestimmt wurde und sicherlich haben Römer, Milanesen, Napolitaner und Turiner ordentlich miteinander palavert und gerungen, um diesen Kompromiss zustande zu bringen. Ohnehin schien es immer um Kompromisse zu gehen, was schon die über 60 zusammengewürfelten Regierungen seit 1947 beweisen, aber diese Kompromisse bedeuten nichts Negatives, Kompromisse erfüllen das Zusammenleben der Italiener mit der großen Geste des Versuchs, miteinander auszukommen. Allerdings sieht es zwischen dem Norden und dem Süden nicht so günstig aus, denn hinter dem Meridian unterhalb von Rom fühlen sich Kalabresen, Apulier, Kampanier und Sizilianer zurecht vom dirigistischen Handeln des Nordens nicht nur ausgeschlossen sondern auch diskriminiert. Für den Norden sind alle aus dem Süden Mafiosi, Schnorrer und Nichtstuer und für den Süden sind alle aus dem Norden Ausbeuter, Bevormunder und Unterdrücker.
Palermo ist zwar die fünftgrößte Stadt Italiens, aber auch die am wesentlich ärmste größere Kommune mit mehr als 250.000 Einwohnern In der Agglomeration Palermo leben mehr als 1 Millionen Menschen und in ganz Sizilien, immerhin die größte Mittelmeerinsel, sind es um die fünf Millionen.
Was zum Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine prachtvolle, architektonisch imposante Metropole gewesen sein muss, kann weder auf Schlüsselindustrien, wie sie der Norden hat, noch auf einen die Zukunft voranbringenden Kommunikationssektor zurückgreifen. Es sind die Touristen, die das meiste Geld bringen wie in so vielen Städten rund um das Mittelmeer.
Ohne das kulturelle Erbe der vielen Völker, die sich in Sizilien niedergelassen haben oder als Eroberer durchs Land gezogen sind, ohne Phönizier, Griechen, Normannen, Römer, Araber und Bourbonen, könnte der Tourismus lediglich die prachtvollen Landschaften, die atemberaubenden Gebirge und die rund um den Stiefel umschließenden Küsten anbieten. Gerade in Palermo zieht die Normannenkultur, die sich wiederum aus vielen anderen Kulturen zusammensetzt, die Touristenströme aus aller Welt an. Auch die Migrantenströme aus dem benachbarten Afrika bleiben zum großen Teil in Palermo hängen, weil die Staaten der EU Italien mit den Problemen der Migration schlicht allein lassen. Andrea Camilleri unterstellt den Sizilianern wie den Italienern ohnehin einen latenten Rassismus, den der Dreitagesgast nicht bemerkt, aber wer am Ballaró einige Wochen verbracht hat, bemerkt genau, dass Schwarz und Weiß nicht so recht zusammenpassen, zumal offensichtlich eine mafiöse nigerianische Gruppe den Ballaró zu dominieren versucht. Wie weit die Territorialstreitigkeiten in den einzelnen Vierteln gehen, wissen nur die Polizei und die handelnden Personen, wenn es Nacht wird zwischen Corso Tukory und der Via Roma.
Das ist keineswegs irgendeine Einladung für den neuen Kettenhund der italienischen Regierung Salvini, der nicht nur sämtliche Migranten aus Afrika und Asien, sondern auch den gesamten Süden am liebsten loswerden möchte. Das Irrste, weil eindeutig faschistisch, ist die Zählung der Roma und Sinti, von denen es 140.000 Menschen in Italien geben soll, um diejenigen sofort des Landes zu verweisen, die keinen italienischen Pass besitzen. Dieser zustand schmerzt Salvini ungemein, denn er wünscht sich ein „zigeneuerfreíes Italien“, der Vergleich mit den Judenzählungen während der Mussolini-Diktatur ist nicht von der Hand zu weisen und sollte allen demokratisch gesinnten Italienern zu Denken geben. Das Movimento 5 Stelle hat sich mit Salvini ein Trojanisches Pferd in den Quirinal geholt und wie diese eigentümliche Liaison ausgehen wird, ist noch vollkommen offen. Dass es inneritalienisch und vor allem europäisch zu reichlich Konfliktstoff kommen wird, braucht nicht gesondert erwähnt zu werden. Irgendwie werde ich den Eindruck nicht los, dass in Sizilien zwar alles genau registriert wird, was in Rom´s Hinterzimmern des Parlaments verhackstückt wird, aber keiner sollte sich deswegen grauen Haare wachsen lassen, zu lange wurde von Rom über alle Köpfe hinwegregiert, zu lange verschwand das Geld der Cassa Mezzogiorno, die Süditalien strukturell auf die Beine helfen sollte, in den Taschen der Mafiabosse in den unterirdischen Bunkern der N´Drangheta. Wer sich dafür interessiert, muss nur einen Blick in die Geschichte werfen, weil Italien seit der Einigung oder dem Risorgimento mit Garibaldi, Mazzini und dem König Vittorio Emanuele 1 im Prinzip bis heute nicht zusammengewachsen ist. Wenn es aber um die Nationalmannschaft im Fußball geht, sind alle Azzuri national vereint, weil Fußballvereine in einem anderen Kosmos schweben.
Die Lokalpolitik, die mit Leoluca Orlando, dem Bürgermeister von Palermo, zumindest in den letzten 30 Jahren einen Quantensprung genommen hat, kann nur als außergewöhnliche Leistung bezeichnet werden, wenn Palermos Werdegang bis zur Staatsgründung unter die Lupe genommen wird. Ihm ist mit der Kulturhauptstadt Italiens und der Manifesta 12 ein großer Coup für die Entwicklung und den Strukturwandel der Stadt wie der Agglomeration gelungen. In Palermo, so scheint es, weht seit der Regierungszeit von Orlando ein neuer Wind durch die Stadt, was nicht darüber hinwetäuschtg, wie zerrissen und gespalten Palermo unter der schönen Fassade aussieht.
Ich bin von Boccadifalco nach Baida und weiter Richtung Norden gewandert und habe die Villen gesehen, die die Südhänge der Berge um die Stadt zieren, so zieren, dass man sie wegen der kunstvoll geschmiedeten Stahlgitter vor den Häusern und den hohen Mauern kaum sehen kann, aber man sieht die Autos, man sieht die neu geteerten Straßen, man sieht die Ruhe und die Ordnung und die vielen bellenden Kampf- oder Beißhunde, die hinter den Gittern nicht nur dem Passanten einen Schrecken einjagen. Diese Villen stehen auf ca. 300 – 400 Meter über Meereshöhe an sehr steilen Hängen, die nur durch sich windende Serpentinenstraßen zu erreichen sind, diese Villen sind nicht von der Stange und schon gar nicht mit Krediten der Bausparkasse errichtet worden, diese Villen zeigen das kapitalistische, das reiche Gesicht der medial immer als vollkommen arm dargestellten Hafenstadt Palermo, die viel zu lange in den Klauen der Mafia war und deshalb so heruntergekommen ist. Von dort oben kann man auch den Flugplatz Boccadifalco sehen, der wie der Flughafen Tempelhof fast mitten in der Stadt liegt. Dieser Flughafen wurde 1931 als Militärflugplatz eröffnet und diente nach dem Krieg bis 1960 auch der zivilen Luftfahrt. Mit der Einweihung des Flughafens Punta Raisi oder Falcone-Borsellino vollzog sich das Ende dieses Kapitels.
Zwischen Boccadifalco und Baida fährt kein Bus, dafür flitzen unentwegt die edleren Karossen die Berge rauf und runter, die man ansonsten im brodelnden Stoßverkehr der Stadt nicht sieht, Automarken, die mit Fiat oder kleinen Polos so viel zu tun haben, wie die geifernd, heranrasenden Hunde mit den ausgehungerten Katzen im Ballaró. Palermo ist eine schöne, eine anziehende Stadt, eine Stadt voller Widersprüche und mit dem Adelsprädikat der immer scheinenden Sonne, einer wundervoll vielfältigen Vegetation und den Mittelmeergestaden, das dem Flair der Stadt einen Charme gibt, der einen immer wieder verzaubert. Palermo muss man trotz allem gerne haben, ja lieben, weil es nicht steril normiert, sondern lebensfroh deformiert wirkt, weil es nach Anerkennung schreit und dunkle Geschichten flüstert, weil es sich anarchisch austobt und trotzdem irgendwie aus jeder Bedrouille immer einen Ausweg findet. Wer im kochenden Ballaró mit der Vespa durch die Menschenmenge fährt und keinen verletzt, wer am Kreisverkehr der Piazza Independenza an der Ampel wartet und dann mit aufjaulendem Motor kreuz und quer in irgendeine Richtung düst und kein Verkehrschaos anrichtet, muss schon die ungeschriebenen Gesetze des „zuerst und mitten durch“ mit der Muttermilch aufgesogen haben. In der ganzen Zeit unseres Aufenthaltes habe ich keinen einzigen Autounfall gesehen, allerdings musste ich feststellen, dass fast jedes zweite Auto mit Schrammen, Kratzer oder Beulen dekoriert war.
Nachts knallen überall zwischen Kathedrale und Hafen die Chinaböller oder Raketen plötzlich und ohne Vorwarnung und um 4 Uhr dreht hin und wieder ein durchgeknallter Nacht-Alien sein Autoradio so weit auf, dass einem selbst im sechsten Stock bei geschlossenem Fenster fast die Ohren fliegen gehen. Der Müll ist ein großes Problem und so etwas wie Umweltbewußtsein ist in den alten Teilen der Stadt ein Fremdwort. Die Plastiktütenmanie feiert am Ballaró Rekorde und wenn man etwas loswerden will, was man nicht mehr braucht, wird es irgendwohin geschmissen.
Mit welcher Lautstärke die sogenannten Problemzonen der Altstadt oder der Plattenbausiedlungen die Ohren strapazieren, so ruhig und seriös geht es hinter der Via della Liberta oder in den Villensiedlungen an den umliegenden Berghängen zu. Da ist es nachts still wie im Mausoleum des alten Mafiosi, der unter dicken Marmorplatten auf dem Rotolifriedhof auf die Auferstehung wartet.
Die besseren Lokale, sofern man sie findet und dann als Normaltourist eingelassen wird, strahlen das elitäre Understatement jenes Haute Volée Sanatoriums aus, das Paolo Sorrentino in seinem Film „Youth“ so meisterhaft dargestellt hat. Das Anstoßen der hauchdünnen Weinpokale klingt wie ein verschämtes Glöckchen bei einer Totenmesse. Man sollte auch einmal mit der Straßenbahn nach Roccella fahren, das an der Südküste liegt, die eigentlich im Osten der Stadt vor dem Capo Zaffarano gebaut wurde. Vom Hauptbahnhof „Stazione Centrale“ fährt man mit der eleganten neuen Straßenbahn ungefähr 20 Minuten durch die Schluchten der Mietskasernen, deren Jahrgang man am Zustand der Fassaden und an der Bauweise einschätzen kann, alle Jahrgänge nach dem Krieg sind vertreten. Von vergammelt mit abblätternden Putz bis zum balkonverzierten Wohnblockschloss in gefälliger Postmoderngestaltung und solider Bausubstanz. Zwischendurch stehen noch ein paar übrig gebliebene Altbauten, aber je näher man Roccella kommt, desto weiträumiger wird der Blick. Am Ende hält die Tram auf einem weiträumigen Platz mit einer futuristisch anmutenden Endstation und dem Blick auf das schöne, glitzernde und strahlende Einkaufsparadies mit allem, was das Konsumieren zu einem wahrhaft drittklassigen Kulturerlebnis macht.
Wer aber Zeit und Muße aufbringt, kann in Palermo alles bekommen, was sein Herz begehrt, außer deutschen Zeitschriften, die werden angeblich nach den Aussagen einiger Kioskbetreiber rund um das Politeamo oder um das Theatro Massimo erst im Juli angeboten.
W. Neisser – Geändert am 4.8.2021